Die Stadt Kassel ist im Oktober 2007 von einem Tag auf den anderen auf reinen Wasserkraftstrom aus Skandinavien umgestiegen. Das wurde als großer Erfolg gefeiert, aber es änderte leider nichts an der europäischen CO2-Bilanz. Denn: Kein Kohle- oder Gaskraftwerk wurde abgeschaltet, kein Wasserkraftwerk neu in Betrieb genommen. Der CO2-Ausstoß änderte sich also nicht im Geringsten.
Wenn 100.000 Haushalte in Kassel, die bisher Kohle-, Gas- und Atomstrom bezogen hatten, von einem Tag auf den anderen Wasserkraftstrom kaufen (ohne dass dazu neue Wasserkraftwerke in Betrieb genommen wurden), erhalten zwangsläufig andere Kunden, die bisher in ihrem Strommix einen höheren Anteil von Strom aus Wasserkraft gekauft hatten, am selben Tag zur selben Stunde nun einen höheren Anteil von Kohle- und Atomstrom. Da diese anderen Kunden aber dazu nicht gefragt, ja nicht einmal darüber informiert wurden, bleibt in der Öffentlichkeit nur der irrige Eindruck haften, dass der CO2-Ausstoß auf einen Schlag verringert worden sei.

Die Übersicht wird für den Stromkunden zusätzlich dadurch erschwert, dass die Stromversorger nach Belieben mit unterschiedlichen Begriffen argumentieren. Einmal sprechen sie vom physikalischen Stromfluss, dann wieder sprechen sie vom kaufmännischen Stromfluss, (der dem Geldfluss entgegengesetzt verläuft). Der Stromkunde, dem der Unterschied nicht bekannt ist und der weder den Fluss des physikalischen Stroms noch den Fluss der von ihm gezahlten Stromgebühren nachverfolgen kann, hat keine Kontrollmöglichkeit mehr.
Das ganze Verfahren erinnert an das berüchtigte Hütchenspiel, bei dem der gutgläubige Teilnehmer sich immer noch darauf konzentriert, zu verfolgen, wohin gerade das Hütchen mit der Kugel verschoben wird, während die Kugel schon längst durch einen Taschenspielertrick verschwunden ist.

Zur Demonstration dieser Irreführung haben wir am 5.8.2008 bei Vattenfall Europe folgende Anfrage getätigt:

Sehr geehrte Damen und Herren.

Die Stadtwerke Kassel werben damit, dass ihre Kunden nunmehr seit einem Wechsel zu Vattenfall CO2-frei mit Wasserkraftstrom aus Skandinavien versorgt werden. Es handelt sich insgesamt um etwa 100.000 Haushalte, also keine ganz unbedeutende Strommenge, die von einem Tag zum anderen CO2-frei bereitgestellt werden musste.

Dazu habe ich folgende Fragen:

Hat Vattenfall zum Stichtag des Wechsels ein neues Wasserkraftwerk in Betrieb genommen, oder woher kommt der Wasserkraftstrom für 100.000 weitere Haushalte?

Oder aber beliefert Vattenfall nunmehr andere Kunden mit einem geringeren Anteil an Wasserkraftstrom im Strommix. Um welche Kundengruppe handelt es sich? Wurden diese anderen Kunden darüber informiert, dass ihr Strom nunmehr weniger Wasserkraftstrom enthält?

Mit freundlichen Grüßen
Wolf von Fabeck


Am 6.8.08 erhielten wir von Vattenfall Berlin telefonisch folgende Auskunft: Es sei kein neues Wasserkraftwerk in Betrieb genommen worden. Der Wasserkraftstrom würde von Vattenfall an der Börse eingekauft. Die Kunden in Kassel erhielten zuverlässig nun auch Wasserkraftstrom, deswegen würden jedoch keine anderen Kunden auf Wasserkraftstrom verzichten müssen. Das sei so ähnlich wie beim Supermarkt. Wenn jemand dort 10 Erdbeerjoghurt kauft, müssten andere Leute auch nicht auf ihren Erdbeerjoghurt verzichten.

Weiteren Nachfragen entzog sich der Berater unter Hinweis auf einen dringenden Termin.

Um Missverständnisse bei der telefonischen Übermittlung auszuschließen, baten wir anschließend schriftlich und höflich um eine schriftliche Bestätigung oder Berichtigung dieser Auskunft. Diese ist allerdings bisher nicht erfolgt.

Unser Kommentar: Es ist bekannt, dass viele Kinder glauben, Milch käme aus dem Kühlschrank. Dass aber ein erwachsener Kundenberater von Vattenfall seine Kunden glauben machen will, Wasserkraftstrom könne an der Börse beliebig vermehrt werden - das wollen wir dann lieber doch nicht kommentieren!

Warum das Beispiel mit den Erdbeerjoghurt nicht zutrifft

Im ersten Moment ist man verblüfft. Aber der Unterschied ist folgender: Erdbeerjoghurt ist lagerbar und hat ein Verfallsdatum. Es wird im allgemeinen mehr produziert als verbraucht wird. In der Handelskette vom Hersteller bis zum Endkunden sind überall Überschussmengen vorhanden. Wenn die Überschüsse nicht gebraucht werden, wird der Erdbeerjoghurt nach dem Verfallsdatum vernichtet.
Wasserkraftstrom hingegen wird grundsätzlich verkauft. Da er keine Brennstoffkosten verursacht, wird er notfalls an der Börse so billig angeboten, dass er jeden anderen Strom unterbietet. Man kann also sicher sein, dass Wasserkraftstrom immer einen Käufer findet, so lange die Kapazität der Transportleitungen ausreicht. Anders ausgedrückt: Es gibt keine unverkauften Überschüsse an Wasserkraftstrom, die plötzlich für die Stadt Kassel aktiviert werden konnten.

Der Handel mit Ökostrom ist somit nicht die Lösung.

Es geht nicht um den Energiehandel, sondern um die Energieerzeugung (physikalisch genauer, die Bereitstellung von Energie aus Erneuerbaren Quellen) im Land

Eine ausführliche Darstellung der komplexen Problematik findet sich in dem Beitrag "Illusion Ökostrom" von Dr. Dirk Asendorpf in DIE ZEIT Nr. 26 vom 19.06.08. Siehe auch den ausführlichen Artikel des SFV Warum der SFV den Ökostromhandel ablehnt.

Die einzige Möglichkeit, den CO2-Ausstoß wirklich zu verringern ist der Bau und die Inbetriebnahme neuer Solar-, Wind-, Wasserkraft- und Geothermiekraftwerke.