Die hohen Energiepreise werden jetzt von Leuten beklagt, die den Aufbau sauberer und preiswerter Energiekapazitäten seit Jahren bekämpfen. Ihr Ziel: Mehr Atomkraft.

Die erwartbare Kampagne zur Rettung der Atomenergie läuft in Deutschland jetzt auf vollen Touren. Die CDU-Politiker, die sich während des Wahlkampfs vorsichtig in diese Richtung tasteten, sind auf die wohlverdienten Oppositionsbänke verweisen worden. Dafür laufen sich jetzt die Medien heiß.

Am 6. Oktober 2021 meldete die „Frankfurter Allgemeine“ unter der skeptischen Schlagzeile „Atomkraft-Befürworter führen ihr letztes Gefecht“, ein „Aktionskreis Energie und Naturschutz“ (Aken) habe der FDP für die laufenden Sondierungs- und Koalitionsgespräche eine Analyse überreicht, wonach die sechs verbliebenen deutschen Atommeiler aus technischer Sicht länger betrieben werden könnten. Dies sei „für den Klimaschutz und als Reserveenergie“ sinnvoll.[1] „Aken“ ist ein junger Zusammenschluss einer Handvoll ultraliberal denkender Männer aus dem FDP-Biotop mit einer Nähe zu den Klimaleugnern der „Vernunftkraft“-Szene.[2] Ein Mini-Milieu marktradikaler Boys, die eine stetig wachsende Blase von „Arbeitskreisen“ und „Instituten“ hervorbringt, die schamlos Begriffe wie „Naturschutz“ kapern, um das Gegenteil zu pushen. Trotz aller Substanzlosigkeit schaffen sie es damit schon mal in ein großes Medium wie die FAZ.

Die FDP-Führung hat das „Aken“-Papier dem Vernehmen nach (noch) nicht in die Koalitionsgespräche eingebracht – wohl wissend, dass diese Forderung, ernsthaft vorgetragen, sofort zu einem erneuten Scheitern der „Ampel“ führen müsste.

Dennoch ist diese operettenhafte Aktion kein Einzelfall. Am 13. Oktober veröffentlichte die „Welt“ einen offenen Brief von 25 internationalen – teilweise durchaus namhaften – Wissenschaftler*innen. Darin wird unter der Überschrift „Liebes Deutschland, bitte lass die Kernkraftwerke am Netz“ die Forderung erhoben, die 2021 und 2022 bevorstehende Abschaltung der verbliebenen sechs deutschen Atomkraftwerke aus Klimaschutzgründen zu verschieben.[3] Aus der eklatanten Verfehlung der Klimaschutzziele wird gefolgert, dass die „kohlenstoffarme“ Energieerzeugung aus Atomkraft die Lücke schließen müsse. Angesichts der großen Potenziale für Erneuerbare Energien in Deutschland, und angesichts der Havariegefahr der Atomanlagen und des immer noch nicht einmal ansatzweise gelösten Atommüll-Problems muss dies als verantwortungslos bezeichnet werden. Die Ausblendung dieser Aspekte – Erneuerbaren-Potenziale und Atomgefahren – das ist der „Elefant im Raum“, nicht das angebliche Klimalösungs-Potenzial der Atomkraft, wie die Unterzeichner*innen schreiben.

Am 19. Oktober dann verbreitete sich eine dpa-Meldung: „Bürgerinitiativen fordern Verlängerung der Atomkraft in Deutschland“.[4] Mit Verweis auf die z.Z. hohen Energiepreise lassen sich zwei Initiativen mit ihrer Forderung nach einem „Kernkraft-Moratorium“ zitieren.

Es ist ein Zeichen des Verfalls journalistischer Sorgfalt, wenn dpa die Akteure dieser Kampagne als „Bürgerinitiativen“ adelt. Denn bei den zwei Akteuren handelt es sich um die sattsam bekannten Anti-Windkraft-Lobbyisten und Klimawandel-Leugner von „Vernunftkraft“[5], sowie einen bis dato wenig bekannten Verein namens „EnergieVernunft“, der in „Mitteldeutschland“ gegen den Kohleausstieg arbeitet.[6] In der dpa-Meldung lässt sich der SPD-Politiker und berüchtigte Klimawandel-Leugner[7] Fritz Vahrenholt zitieren: "Explodierende Energiepreise und Versorgungsengpässe sind vor allem ein Zeichen des Mangels und vor diesem Hintergrund ist die Stilllegung der letzten sechs Kernkraftwerke in den nächsten 14 Monaten unverantwortlich." Die Verknüpfungen zwischen Vahrenholt, dem Kohle- und Atom-Konzern RWE und der Schein-Bürgerinitiative „Vernunftkraft“ sind schnell zu recherchieren. Daher ist diese dpa-Meldung ein echtes Armutszeugnis des deutschen Nachrichtenagenturwesens.

Aber was lernen wir aus dieser Konstellation? Erstens: Die Verknappung der Energie im Stromsektor, zu der der Atomausstieg sicherlich beiträgt, wird hier von einer Gruppe („Vernunftkraft“) beklagt, deren einziger Daseinszweck die Verhinderung des Ausbaus Erneuerbarer Energien ist. Die also für diese Verknappung direkt mitverantwortlich ist. Dies ist ein Indiz dafür, welches das eigentliche Ziel dieser Organisation ist: die Verteidigung der gefährlichen und extrem umweltschädlichen Energietechniken Kohle und Atom. Übrigens – a propos Begriffs-Piraterie – das präzise Gegenteil von Vernunft.

Zweitens: Die mitteldeutsche Initiative leitet aus ihrem Plädoyer für die Braunkohle sehr leichtfüßig ein ebensolches Plädoyer für die Atomenergie ab. Auch dies beweist, dass es bei diesen Vorstößen weder um die Arbeitsplätze von Braunkohle-Kumpeln geht, noch um Klimaschutz. Es ist die alte Frontstellung der energiewirtschaftlichen Großkonzerne mit ihren Kohle- und Atommeilern gegen die Energiewende und gegen ein dezentrales Energieversorgungssystem mit vielen Akteuren.

Die Verfasser*innen des „Offenen Briefs“, die Atomkraft als Klimaschutz-Energie unterstützen, sollten sich einmal mit diesen Zusammenhängen beschäftigen.[8] Klimaschutz im Bündnis mit den Klimakillern durchzusetzen, das erscheint als eine nicht besonders gut durchdachte Strategie.


 

[1]             https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/klima-nachhaltigkeit/atomkraft-befuerworter-fuehren-ihr-letztes-gefecht-17572639.html - In der gedruckten Fassung lautete die Schlagzeile: „Laufzeitverlängerung von AKW technisch möglich“.

[2]             Vgl. http://www.vernunftkraft-hessen.de/wordpress/2021/08/31/neuer-aktionskreis-energie-naturschutz-ist-klimaneutralitaet-bis-2045-moeglich/

[3]             https://www.welt.de/debatte/kommentare/article234364140/Offener-Brief-Liebes-Deutschland-bitte-lass-die-Kernkraftwerke-am-Netz.html?cid=socialmedia.twitter.shared.web

[4]             Vgl z.B. https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/buergerinitiativen-fordern-verlaengerung-der-atomkraft-in-deutschland-10639819 Verantwortlich zeichnet neben dpa auch AFX, der in London ansässige Finanz-Zweig der französischen Nachrichtenagentur AFP.

[5]             https://www.sfv.de/artikel/mit_vernunftkraft_gegen_saubere_energie

[6]             Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=5k3OOLC7hHQ und https://www.energievernunft-mitteldeutschland.de/Ueber-uns/

[7]             Vgl. https://www.sfv.de/artikel/freiheit_der_maerkte_oder_zukunft_der_menschheit

[8]             Vgl. z.B. noch https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/atom-oder-kohle-weder-noch

 

Abb.: Hypermoderne Steueranlage im "ewig sicheren" Atommüll-Endlager Asse 2. Quelle: Wikipedia (gemeinfrei)