Wie Klimaschutz zum Grundrecht wurde
Im Herbst 2009 übernahm das Kabinett „Merkel II“ die Bundesregierung, eine Koalition aus CDU/CSU und FDP. Spätestens seit diesem Zeitpunkt stand die Energiewende in Deutschland unter massivem Beschuss. Das Rückgrat dieser Energiewende war das „Erneuerbare-Energien-Gesetz“ (EEG), mit dem im Jahr 2000 das vom SFV entwickelte „Aachener Modell“ der kostendeckenden Einspeisevergütung für Strom aus Erneuerbaren Energien bundesweit gesetzlich verankert worden war. Die Bundesregierung begann nun, dieses sehr erfolgreiche Instrument durch bürokratische Hürden und durch Absenkung der Einspeisevergütungen zahnlos zu machen. Die Zubauzahlen der Erneuerbaren Energien brachen dadurch ein. All dies geschah in einer Phase der Verschärfung der globalen Klimakrise.
Beim SFV kam daraufhin die Idee auf, die rechtliche Seite des Klimaschutzes zu beleuchten. Denn die zunehmenden Klimawandel-Folgen führten bereits damals zu massiven Beeinträchtigungen von Grundrechten. Zum Beispiel des Rechts auf Leben: Im Hitzesommer 2003 waren in Europa mindestens 70.000 zusätzliche Todesfälle aufgetreten. Auch das Recht auf Eigentum wird durch Waldbrände und Überschwemmungskatastrophen zunehmend verletzt.
1. Die langjährige Vorbereitung
Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt, Gründer und Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik (Leipzig/ Berlin), erstellte im Jahre 2010 ein erstes Gutachten im Auftrag des SFV. Darin untersuchte er die Voraussetzungen für eine juristische Bearbeitung von klimapolitischen Versäumnissen vor höchsten Gerichten – dem Bundesverfassungsgericht, dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Dies war die Grundlage für einen seitdem anhaltenden, intensiven Austausch vor allem zwischen Prof. Ekardt und dem langjährigen SFV-Geschäftsführer Wolf von Fabeck. 2014, nach einer weiteren Verschlechterung des EEG durch die inzwischen regierende „Große Koalition“, beauftragte der SFV drei weitere Gutachten bei Prof. Ekardt. Das zweite Gutachten begründete die Verfassungswidrigkeit jener EEG-Novelle. Das dritte Gutachten problematisierte die damalige Rechtspraxis, dass man gegen Grundrechts-Beeinträchtigungen erst bei bereits eingetretenem Schaden klagen durfte, nicht bei absehbaren Schädigungen in der Zukunft. Das vierte Gutachten vertiefte die bereits im dritten Gutachten angesprochene Problematik von Enteignungen zugunsten fossiler Energieprojekte. Schließlich finanzierte der SFV im Jahre 2018 ein fünftes Gutachten. Darin wies Prof. Ekardt nach, dass das völkerrechtlich verbindliche Pariser Klimaabkommen von 2015 eine ambitioniertere Klimapolitik verlange, als die Bundesregierung (inzwischen das schwarz-rote Kabinett Merkel IV) sie immer noch verfolgte. Dies sei vor nationalen Gerichten einklagbar. Das Pariser Abkommen verpflichtete die Unterzeichner-Staaten auf Maßnahmen, welche die Erderwärmung auf 1,5° C gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzten.
2. Die erste Klimaklage
Aufgrund dieser umfangreichen Vorarbeiten erarbeitete Prof. Ekardt gemeinsam mit seiner Leipziger Kollegin, Rechtsanwältin Dr. Franziska Heß, die erste Klima-Verfassungsklage. Sie wurde am 22. November 2018 beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Auch diese Arbeit wurde vom SFV finanziert. Als Klagende traten neben dem SFV der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sowie neun Einzelkläger auf. Andere Umweltverbände waren damals noch nicht bereit, ebenfalls eine Klage zu unterstützen. Die Klage richtete sich gegen „das Unterlassen geeigneter gesetzlicher Vorschriften und Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels durch die Bundesrepublik Deutschland“. Mit diesem Unterlassen, so argumentiert die Klageschrift, würden Grundrechte der Klagenden verletzt; die Bedrohung ihrer Freiheitsrechte wirke auch „über Zeitgrenzen und über Staatsgrenzen hinweg“.
Im August 2019 forderte das Bundesverfassungsgericht die Bundesregierung zu einer Stellungnahme auf. Damit war klar, dass das Gericht gewillt war, Neuland zu betreten und unsere Klage zu behandeln. Im gleichen Jahr verabschiedete der Bundestag erstmals ein Klimaschutzgesetz (KSG) für die Bundesrepublik Deutschland, welches das Ambitionsniveau der deutschen Klimapolitik festlegt, das jedoch viel zu ambitionslos blieb. Unter anderem strebte es eine Klimaneutralität in Deutschland erst für das Jahr 2050 an. Infolge dieses KSG wurden beim Bundesverfassungsgericht 2020 drei weitere Klimaklagen eingereicht. Hinter den überwiegend jugendlichen Einzel-Klagenden standen dort weitere Umweltverbände wie Germanwatch oder Greenpeace. Alle vier Klimaklagen wurden nun gemeinsam vom BVerfG behandelt.
Das Gericht fasste am 24. März 2021 (veröffentlicht am 29. April) seinen Beschluss über die Klimaklagen. Es gab den Verfassungsbeschwerden in Kernpunkten Recht. Es erkannte an, dass der Staat die Freiheit und ihre elementaren Voraussetzungen Leben und Gesundheit gegen den Klimawandel schützen muss. „Vorschriften, die jetzt CO2-Emissionen zulassen, begründen eine unumkehrbar angelegte rechtliche Gefährdung künftiger Freiheit“, liest man in dem Urteil. Damit ist die intertemporale Dimension der Schutzpflichten anerkannt. Und weiter heißt es, bei der Abwägung des Klimaschutzes mit anderen Verfassungsrechtsgütern müsse „das relative Gewicht des Klimaschutzgebots in der Abwägung bei fortschreitendem Klimawandel weiter zu[nehmen]“.
Dieses Urteil war ein Meilenstein in der deutschen (und auch internationalen) Rechtsprechung zur Klimapolitik. Seither hat alle Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung den Grundrechtscharakter des Klimaschutzes zu berücksichtigen. Aber in mancher Hinsicht sprang das BVerfG hier auch zu kurz. Obwohl das Urteil durchgängig mit den „Budget“-Berechnungen des IPCC argumentierte (also der Frage: Wieviel Tonnen CO2 können noch ausgestoßen werden, um die im Pariser Klimaabkommen von 2015 vereinbarte 1,5-Grad-Grenze einzuhalten), beanstandete es die grundsätzliche Zielvorgabe des KSG nicht, die doch jene Budget-Berechnungen weit überstiegen. (Selbst bei der optimistischen Annahme, dass noch ein globales Restbudget an Emissionen für die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze mit einer 67-prozentigen Wahrscheinlichkeit vorhanden sei, wäre der deutsche Anteil daran Ende 2024 erschöpft.) Das leugnet das Gericht nicht, benennt es aber auch nicht klar. Außerdem leitete das BVerfG die unterstellten künftigen Freiheitsgefährdungen nicht primär aus den zu erwartenden katastrophalen Klimawandelfolgen ab, sondern aus der Belastung durch dann verstärkt nötige Emissions-Reduktionsschritte. Das Urteil ist zwar in vielem epochal, etwa indem es die zeit- und ortsübergreifende, also intertemporale und globale Geltung der Grundrechte betont und ihren auch vorsorgenden Schutz betont. Gemessen an der riesigen Herausforderung ist es dennoch nur ein Etappensieg. Einer unserer Einzelkläger nannte das Urteil sogar „feige“, weil es die Irreversibilität vieler Klimaentwicklungen, die bereits heute ablaufen, nicht berücksichtigt habe. Das Urteil versäume es, von der „Zerstörung von Lebensgrundlagen und existentieller Bedrohung“ zu sprechen.
© SFV | Abb 1 – Wolf von Fabeck, SFV-Geschäftsführer, entwickelte mit Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt seit 2010 die Idee einer Klima-Verfassungsbeschwerde.
© SFV | Abb 2 – 2023 wurde unsere Klimaklage mit dem Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union ausgezeichnet.
3. Die Folgen des BVerfG-Klima-Beschlusses
Wenige Wochen nach der Veröffentlichung des Urteils Ende April 2021 novellierte die schwarz-rote Bundesregierung das KSG. Das Zieljahr für Treibhausgas-Neutralität wurde von 2050 auf 2045 vorgezogen, das Reduktionsziel für 2030 erhöht und zusätzliche Etappenziele für den Zeitraum nach 2030 in das Gesetz eingezogen. Diese kleinen Verbesserungen erscheinen angesichts der Größe des Problems völlig unzureichend. Umso bestürzender ist es, dass die Ende 2021 an die Regierung gelangte Ampelkoalition (die in einigen Bereichen wie beim Ausbau von Photovoltaik durchaus gute Ansätze zur Klimapolitik zeigte) im Bereich des Klimaschutzgesetzes eine erneute Verschlechterung anstrebte und im April 2024 auch beschloss. Hier wurden die Pflichten der verschiedenen Sektoren – gemeint ist hier vor allem der Verkehrssektor – gestrichen, bei einer Zielverfehlung hinsichtlich der Emissionsreduktion in ihrem Bereich ein sofortiges Maßnahmenprogramm vorzulegen, um die Lücke zu schließen. Insgesamt wurden die Instrumente zur Beobachtung der Emissionsentwicklung und zur Nachsteuerung stumpf gemacht.
Dem Klima-Beschluss des BVerfG genügte unserer Einschätzung nach bereits das KSG nach der ersten Novelle keineswegs. Mit der jüngsten, zweiten Novelle wird es geradezu mit Füßen getreten. Das ist der Hauptgrund dafür, erneut dagegen vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Zugleich erhält das BVerfG dadurch Gelegenheit, seine Rechtsprechung angesichts der dramatischen Entwicklungen, die das globale Klima seit 2021 durchgemacht hat, im Sinne der oben genannten Kritik fortzuentwickeln.