Was heißt denn hier "Mobilitätswende"? 


„Wir brauchen eine Vollbremsung in der Verkehrspolitik.“ So fasste es Tobias Austrup (verkehrspolitischer Sprecher bei Greenpeace) bei einem Fachgespräch der Grünen Bundestagsfraktion zur Verkehrswende im Juni 2022 zusammen. Aber wer soll das Bremspedal betätigen, wenn der Bundesverkehrsminister einer Partei angehört, die aufgrund eines eingeengten Freiheits-Begriffs jedes Tempolimit (und damit eine wichtige, kostenlose Klimaschutzmaßnahme) verhindert? Der überfällige Umbau des Verkehrssystems wird sehr viele Gewinner produzieren, aber auch einige Verlierer. Das sind jene, die vom Status quo objektiv profitieren und die vielen Menschen erfolgreich eingeredet haben, aus den Auspuffrohren von Benzinkutschen komme der Duft der Freiheit. In der jetzigen Bundesregierung sind sie durch jene Partei glänzend vertreten.


Verkehrswende als Wirtschaftswende


Es geht bei der Verkehrswende auch nicht nur um Fahrzeugtypen und um die Art der Beförderung der Menschen von A nach B. Die gesamte Logik unseres heutigen Wirtschaftssystems hängt mit daran. Die Produktion ist im globalen Kapitalismus durch zwei Phänomene gekennzeichnet. Erstens hat sich eine Just-in-Time-Produktion etabliert, wodurch Lagerhallen abgebaut und die Autobahnen zu „rollenden Warenlagern“ wurden. Rollend, und dabei ständig Treibhausgase ausstoßend. Zweitens hat sich eine forcierte internationale Arbeitsteilung etabliert. Das globale Freihandelsregime führt ja nicht nur dazu, dass Regierungen für jede Klimaschutzmaßnahme erfolgreich von Konzernen verklagt werden können. Es führt außerdem dazu, dass auch die Weltmeere und der Luftraum sich in schwimmende bzw. fliegende Warenlager verwandelt haben. Und die Klimabilanzen dieser Fernhandelswege sind noch verheerender als die der LKW-Flotten.


Die Verkehrswende erfordert daher auch eine Wirtschaftswende. Wir brauchen für den Klimaschutz in der Tat weniger globale Arbeitsteilung. Dass mit regionalisierten Wirtschaftskreisläufen auch die Gefahr von Versorgungskrisen im Falle von Corona-Lockdowns oder kriegsbedingten Sanktionsspiralen verringert werden kann, ist ein angenehmer Nebeneffekt. So, wie unsere Städte lebenswert werden, wenn wir endlich aufhören, sie autogerecht zu gestalten. Aber wie gesagt, bei diesem Umbau wird es auch Verlierer geben – mächtige Player. Deswegen müssen wir darum kämpfen.


Um nicht falsch verstanden zu werden: Wenn das Autofahren teurer und unattraktiver wird, ohne dass sich andere Aspekte der Mobilität ändern, dann gibt es auch viele weitere Verlierer: Menschen, die in den Vorstädten oder auf dem Land wohnen und zum Pendeln gezwungen sind, oft mit niedrigem Haushaltseinkommen; oder kleine Unternehmen und Sozialeinrichtungen mit einem Fuhrpark, der nicht ohne weiteres ausgetauscht werden kann. Sie, die oft wegen explodierender Mieten aus den Städten vertrieben wurden, sind nicht gemeint, wenn wir von Profiteuren des Status quo sprechen. Diese Prozesse müssen umgekehrt werden; hier zeigt sich wiederum, dass die Verkehrswende auch eine Wirtschaftswende impliziert. Auf mittlere Sicht werden diese Menschen von der Mobilitätswende profitieren, die nicht nur öffentliche Mobilitätsangebote verbessern, sondern auch zu funktionalen Änderungen in der Siedlungsstruktur und zu neuen Arbeitswelten (wie z.B. kleinstädtischen Co-Working-Spaces) führen wird. Es geht darum, sie vom Zwang zum Auto zu befreien. Der Beitrag von Katja Diehl gibt einen Einblick in dieses Handlungsfeld.


Die Frage ist nur, wie diese Prozesse möglichst beschleunigt werden können; denn die Klimakatastrophe duldet keinen Aufschub. Und die Frage ist, wie man auf dem Weg möglichst wenig Fehler macht. Marktsignale wären tatsächlich eines der wichtigsten Werkzeuge im Werkzeugkasten der Mobilitätswende, um im Einzelfall angepasste Lösungen zu ermöglichen. Z.B. muss die Zerstörung des Klimas – also die Verbrennung fossiler Treibstoffe – einen angemessenen Preis bekommen. Dann erhalten die vernünftigeren Alternativen – von Fahrrad und öffentlichem Verkehr, über die Renaissance der Lagerhaltung, bis hin zur Reduzierung des exzessiven Welthandels – einen Wettbewerbsvorteil. Aber was erleben wir im Krisenjahr 2022? Die Verknappung und Verteuerung von Benzin und Diesel wird mit einer staatlichen Subventionierung dieser Stoffe („Tankrabatt“) ausgehebelt. Plötzlich ist der Markt nichts mehr wert, und die Verknappung eines Gutes wird mit Anreizen zu dessen vermehrtem Konsum beantwortet. Raten Sie mal, welche Partei dafür verantwortlich zeichnete!

Abb 1 — Herzstück der deutschen Verkehrspolitik im Jahr 2022 • 

Das gleichzeitig im Juni, Juli und August geltende 9-Euro-Ticket im öffentlichen Nahverkehr hat unterdessen zweierlei verdeutlicht. Erstens, wie sehr ein solches preiswertes und unkompliziertes Angebot von sehr vielen Menschen gewünscht wird. Und zweitens, wie wenig unser vorhandenes, stiefmütterlich behandeltes ÖPNV-System auf dieses Erfolgsmodell vorbereitet war – insbesondere in ländlichen Räumen. Wir brauchen künftig beides: einen attraktiven Nachfolger für das 9-Euro-Ticket (ob das jetzt beschlossene 49-Euro-Ticket da schon ausreicht?), und viel Geld, das in den Ausbau des ÖPNV gesteckt wird – was dann logischerweise nicht aus den Ticketpreisen finanziert werden kann, sondern mit Steuergeldern. Die Beendigung der Subventionierung der problematischsten Verkehrserscheinungen (Dienstwagenprivileg, Subventionierung von Diesel und Kerosin, um nur einige zu nennen) würde schon eine attraktive Gegenfinanzierung ermöglichen. Insgesamt entfielen laut Umweltbundesamt 2018 mehr als 30 Mrd. Euro Fossilsubventionen jährlich auf den Verkehrssektor. [1]


Verkehrstechnik oder Verkehrskultur?


Die Mobilitätswende muss auf das Kardinalproblem antworten, dass keine fossilen Treibstoffe mehr verbrannt werden dürfen. Diese Aufgabe lässt sich auf verschiedene Weise angehen. Ein Ansatz besteht darin, das Problem auf technische Weise zu lösen. Dieser Ansatz dominiert heute, und selbst er wird enger gefasst als nötig. Es wird nämlich fast ausschließlich über eine Antriebswende diskutiert. Batterieelektrische Antriebe, Brennstoffzellen, E-Fuels, im Einzelfall vielleicht sogar unmittelbare Nutzung von Sonnenenergie werden gegeneinander abgewogen. Aber wenn statt eines Benzin-SUV ein Elektro-SUV gebaut wird, ist damit ein ebenso großer Ressourcenverbrauch verbunden. Erst zaghaft werden Möglichkeiten diskutiert, Fahrzeug-Karosserien aus umweltschonenderen Materialien zu bauen, etwa aus Holz oder aus recyceltem Kunststoff (vgl. www.sfv.de/retrofitting-recycling-autos-und-batterien-aus-holz).[2] Eine noch effektivere Ressourcenschonung liegt beim ebenfalls noch kaum bedachten „Retrofitting“ vor: Bestehende Fahrzeuge werden durch Austausch des Antriebsstrangs elektrifiziert.[3] Der Beitrag von Thomas Pade zeigt, wie reizvoll das sein kann, aber auch, welch riesiger Aufwand mit so einem in Eigenregie geplanten Umbau verbunden sind. Warum fördert die Bundesregierung den Kauf eines neuen E-Autos mit tausenden Euro, aber die ressourcenschonende Elektrifizierung eines vorhandenen Autos mit keinem Cent? Warum bieten die Hersteller keine standardisierten Bausätze zum E-Retrofitting ihrer Modelle an? Ich vermute, Sie kennen die Antwort.


So lassen sich viele technische Details denken, die etwa den ‚ökologischen Reifenabdruck‘ von Autos reduzieren könnten. Der Gesetzgeber könnte hier deutlich helfen, sowohl durch ein rasches Zulassungsverbot für neue Verbrennungsmotoren als auch z.B. durch eine gesetzliche Begrenzung der Länge, Breite, Höhe, des Leergewichts und der Motorleistung von Fahrzeugen. Aber das Grundproblem bliebe immer noch bestehen: der enorme Bedarf individualisierter Autos an Raum, welcher dadurch nicht mehr für Menschen und ihre Bedürfnisse, für kulturelles Leben und für Grün in der Stadt zur Verfügung steht. Hier kommt ein zweiter Ansatz der Mobilitätswende ins Spiel, der nicht mehr technisch denkt, sondern kulturell. Der deswegen lange eingeübte Selbstverständlichkeiten hinterfragt. Der von der Frage ausgeht: Wie wollen wir leben?


Welche Bedürfnisse befriedigt der große Blech-Kokon namens Auto? Wenn wir Ruhe vor unseren Mitmenschen wünschen: Wie ist es dazu gekommen? Sehen wir die Innenstadt als Raum maximierten Konsums, oder als Ort der Begegnung und des Lebensgenusses? Wollen wir wirklich, dass alles immer schneller passiert, oder täte es uns gut, etwas Tempo aus unserem Leben herauszunehmen? Sind wir im Straßenverkehr und in der Politik für das Recht der Stärkeren, oder für den Schutz der Schwächeren?

Abb 2 — Wie wollen wir leben? Autofreie Straße in Berlin. •

Handreichung fürs politische Handgemenge


Wir wollen in diesem Solarbrief-Schwerpunkt beide genannten Ansätze verfolgen. Wir gehen davon aus, dass Mobilität ein menschliches Grundbedürfnis ist, das nachhaltig befriedigt werden muss. Wir wollen eine Welt, in der es zwar viel, viel weniger Flug- und Schiffsverkehr gibt als heute, in der diese Reiseformen aber nicht abgeschafft sind. Deswegen sind Fragen nach technischen Lösungen wichtig. Zugleich müssen wir schnell von den grotesken Auswüchsen an Ineffizienz wegkommen, die im Transport einzelner Menschen durch mehrere Tonnen wiegende Boliden bestehen, oder in dem dramatischen Treibhausgas-Ausstoß pro Kopf bei Flugreisen. Das wird nicht ohne Verhaltensänderungen funktionieren. Deswegen sprechen wir sowohl technische als auch kulturelle Aspekte der Mobilitätswende an.


Sie hängen übrigens in komplexer Weise zusammen. Wenn wir im transkontinentalen Luftverkehr für Luftschiffe an Stelle von Jets plädieren, dann liegt dies zunächst an der (verglichen mit Flugzeugen) um den Faktor zehn besseren Energieeffizienz dieser Technik. Auf der anderen Seite wird eine Atlantiküberquerung per Zeppelin vielleicht wieder drei oder vier Tage dauern. Wer jetzt spontan denkt, das sei der Nachteil dieses Konzepts, sollte kurz innehalten und sich fragen, ob unsere Kultur der maximalen Beschleunigung und der grenzenlosen Verfügbarkeit im Endeffekt wirklich erstrebenswert ist. Vielleicht ist ja Entschleunigung eine lohnende verkehrspolitische Zielsetzung an sich, selbst ohne dass wir Probleme wie die Klimakatastrophe oder Unfallopfer eigens thematisieren müssten.


Es ist freilich verständlich, wenn z.B. Berufspendler:innen ihren Acht-Stunden-Arbeitstag nicht noch mit überlangen Fahrzeiten verlängern wollen. Aber wenn wir dieses Thema ansprechen, dann muss eine Reihe weiterer Fragen adressiert werden: Welche verkehrspolitischen Weichenstellungen haben dafür gesorgt, dass die Menschen immer weiter entfernt von ihren Arbeitsplätzen wohnen? Wie ließe sich der Trend umkehren? Was ist noch zeitgemäß an einer 40-Stunden-Woche? Ist das Pendeln per Auto wirklich schneller als mit ÖPNV oder mit Pedelecs, und wenn ja, muss das so bleiben? Liegt es vielleicht an vielen Jahrzehnten einer Verkehrspolitik, die die Alternativen systematisch benachteiligt und zurückgedrängt hat? Und wiederum: Wenn dieser Zustand politisch herbeigeführt wurde, warum soll man dann nicht einen besseren Zustand ebenfalls politisch herbeiführen können?


Aber in den verkehrspolitischen Debatten wird sehr oft naturalisiert, d.h. es wird als Naturgesetz behandelt, was doch Folge politischer Entscheidungen ist. Achten Sie einmal darauf, wenn z.B. im Wirtschaftsteil der Zeitung davon geschrieben wird, der globale Flugverkehr werde sich bis 2050 verdoppeln. Warum denn? Wer will das? Oder wenn in Leserbriefen wieder und wieder argumentiert wird, die Menschen wollten „nun mal“ mit dem Auto zum Einkaufen fahren, deshalb dürfe sich nichts Grundsätzliches ändern. Die Menschen wollen das aber nicht „nun mal“, sondern unter ganz konkreten und änderbaren Bedingungen, z.B. der Zentralisierung von Einkaufsmöglichkeiten, einem schlecht ausgestatteten ÖPNV oder der Gefährlichkeit des Fahrradfahrens in Großstädten. Und der globale Flugverkehr wächst (oder schrumpft) in genau dem Maße, wie neue Start- und Landebahnen gebaut, Treibstoffe subventioniert, Märkte dereguliert werden. Es ist eine Beleidigung des Gedankens der Demokratie, wenn der Entscheidungscharakter all dieser Vorgänge geleugnet wird.


Und wenn wirklich sichtbare, demokratische Entscheidungen gefällt werden, wie bei den Volksbegehren in vielen Städten, die zu „Radentscheiden“ führen, dann wird jede einzelne Verbesserungsmaßnahme von einer kleinen, aber lauten und mächtigen Minderheit weiter bekämpft, verzögert oder verhindert; von einer Minderheit, die meint, Lärm, Gestank und Versiegelung in unseren Städten seien ein Menschenrecht. Wie eingangs betont: Um den Umbau unseres Verkehrssystems müssen wir kämpfen, seine offensichtlichen Vorteile reichen für eine Durchsetzung nicht aus.


Die Auseinandersetzungen werden auf allen Ebenen geführt, vermutlich auch bei Ihnen vor Ort. Dieser Solarbriefschwerpunkt möchte Ihnen Anregungen und Argumente für diese Auseinandersetzung anbieten. Wir brauchen schnelle Erfolge auf breiter Front. Denn es geht nicht nur um die kurzfristige Verbesserung der Lebensqualität der Menschen (das auch). Es geht um die Abwendung des ökologischen Desasters.

Abb 3 — Image by pexels from pixabay