Was die SPD unter sozialer Klimapolitik versteht – und wie sie wirklich funktionieren könnte
Im „Zukunftsprogramm“ der SPD zur bevorstehenden Bundestagswahl[1] heißt es, Klimaschutz sei „die soziale Aufgabe der nächsten Jahrzehnte“. Wenn man sich fragt, welche Maßnahmen die Partei aus diesem sehr zutreffenden Bekenntnis ableitet, findet man aber recht wenig Konkretes. Auf dieses Wenige gehen wir am Ende dieses Beitrags ein.
Zuvor möchten wir aber ein anderes SPD-Dokument betrachten, das in dieser Hinsicht auskunftsfreudiger erscheint. Es handelt sich um das „Klimaschutzprogramm 2030“ vom Dezember 2020. Darin beschreibt die SPD, wie sie Klimapolitik sozial gerecht gestaltet.[2] In dem „Soziale Klimapolitik“ überschriebenen Text findet sich folgende Passage zu den kompensierenden Maßnahmen für die CO2-Bepreisung:
„Im Gegenzug zum CO2-Preis sorgen wir für sozialen Ausgleich, damit auch Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen die Umstellung bewältigen können. Dazu gehört die Senkung der Mehrwertsteuer auf Bahntickets, die Entlastung von Pendlerinnen und Pendlern mit langen Arbeitswegen über die Pendlerpauschale bzw. eine Mobilitätsprämie, die Kaufprämie für Elektroautos, die Erhöhung des Wohngeldes und die Senkung der EEG-Umlage.“
Ein Konglomerat
Das ist ja so ungefähr das Programm, das die Große Koalition als Bestandteil ihres „Klimapakets“ 2019 beschlossen hatte. Der genannte CO2-Preis war in diesem Päckchen mit 25 € pro Tonne bekanntlich viel zu niedrig dimensioniert. Kohlekraftwerke sollen noch bis 2038 die Atmosphäre belasten dürfen. Aber uns interessiert hier etwas anderes: Wie wirken die genannten Entlastungsmaßnahmen? Was ist „sozialer Ausgleich“ für die Sozialdemokratische Partei?
- Die Erhöhung des Wohngeldes entlastet in der Tat Haushalte mit niedrigen Einkünften.
- Die Senkung der Mehrwertsteuer auf Bahntickets entlastet Bahnreisende aller Schichten, hat also praktisch keinen sozialpolitischen, wohl aber einen sinnvollen verkehrspolitischen Effekt.
- Die Kaufprämie für Elektroautos verbessert deren Konkurrenzsituation gegenüber Benzin- und Diesel-Autos. Elektroautos bleiben aber zunächst ein Angebot für Betuchte. Ein sozialer Ausgleich ist in dieser Maßnahme überhaupt nicht zu erkennen.
- Von der Entlastung der Pendler*innen profitieren Berufstätige, unabhängig von ihrer sozialen Stellung. Die Erhöhung der Pendlerpauschale nützt Haushalten mit höherem Einkommen (und höherem Steuersatz) durch die steuerliche Absetzung sogar mehr als einkommensschwächeren. Diese Maßnahme fördert außerdem lange Fahrtstrecken zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, ist also ein Anreiz zur Zersiedelung der Landschaft und zumindest teilweise auch für mehr Autoverkehr. Sie ist dazu angetan, den Effekt der CO2-Bepreisung wieder aufzuheben.
- Die Senkung der EEG-Umlage soll den Stromverbrauch verbilligen. Von diesem Instrument profitiert stärker, wer mehr Strom verbraucht; das sind tendenziell Haushalte mit höherem Einkommen.
Im Ganzen haben wir hier ein Konglomerat völlig widersprüchlicher Maßnahmen, klimapolitisch teils sinnvoll, teils schädlich; sozialpolitisch teils in die richtige Richtung gehend, teils neutral, überwiegend aber Ungleichheiten verschärfend. Die SPD hätte dies als schmerzlichen Kompromiss in der Koalition verkaufen können. Aber sie attestiert diesem windschiefen Gebäude eine sozialdemokratische Handschrift, vermutlich weil sie daran selber glaubt.
Wie kommt also die SPD auf die Idee, dieses Potpourri als Paket des „sozialen Ausgleichs“ zu präsentieren? Einerseits wohl, weil man händeringend Erfolgsmeldungen braucht und daher versucht ist, Ergebnisse von Kompromissverhandlungen mit dem Koalitionspartner CDU/CSU als eigene Errungenschaft zu verkaufen. Andererseits zeigt sich hier wohl auch, dass die SPD ein Wahlklientel vor Augen hat, das eben nicht im unteren Viertel der Einkommenspyramide lebt, sondern im relativ gutsituierten Facharbeitermilieu. Dort wird in die Ferne gependelt, dort denkt man über E-Autos nach. Die SPD sieht sich als Partei der „Mitte“, nicht nur im Links-Rechts-Spektrum, nicht nur im Bekenntnis zum Mittelmaß, sondern eben auch als Anwalt von Mittelschichten. Sozialpolitik brauchen aber in erster Linie die Unterschichten.
Gegenvorschlag: Klimaschutz und Entlastung Einkommensschwacher
Und so kommt die SPD bisher nicht auf Ideen, welche tatsächlich „sozialen Ausgleich“ bringen und zugleich die Energiewende befördern könnten. Ein einfaches und klar verständliches Instrument wäre schon seit langem z.B. ein Verbot für Energieversorger, die Bezugspreise nach Bereitstellungspreis („Grundgebühr“) und Arbeitspreis aufzuteilen. Dieses Verfahren bestraft Haushalte mit geringem Energieverbrauch, denn je weniger Kilowattstunden jemand verbraucht, desto höher schlägt der Bereitstellungspreis auf jede kWh durch. Reiche Vielverbraucher werden mit satten Mengenrabatten belohnt. Würde der Bereitstellungspreis abgeschafft und auf den Arbeitspreis umgelegt, wäre diese Ungerechtigkeit behoben und zugleich ein Anreiz zum Stromsparen gesetzt.
Ein noch viel wirksameres Instrument, das die SPD nicht erwähnt, wird unter Begriffen wie „CO2-Umlage“, „Energiegeld“, „Klimaprämie“ oder „Lenkungsabgabe“ diskutiert. Dabei findet eine umfassende Bepreisung des Ausstoßes von Treibhausgasen statt, und die Einnahmen werden zu 100% wieder pro Kopf der Bevölkerung ausgeschüttet. Von einer solchen Umschichtung profitieren Haushalte mit einem kleineren CO2-Fußabdruck, also Ärmere sowie klimabewusst Handelnde. Der idealtypische SPD-Wähler muss sich etwas anstrengen, kann aber ebenfalls mehr Geld herausbekommen als zahlen.
Man kann mit demselben Prinzip auch im gewerblichen Bereich steuern: Die in den Betrieben anfallenden CO2-Abgaben werden dann zu 100% pro Arbeitsplatz in der Stammbelegschaft an die Betriebe zurück ausgeschüttet. Hier profitieren dann Firmen, die viele Arbeitnehmer*innen beschäftigen, sowie solche, die klimabewusst produzieren. (Stattdessen hat die amtierende Bundesregierung, wie immer, einen Ausgleich für die CO2-Bepreisung solchen Unternehmen zugesichert, die besonders emissionsintensiv sind, um sie im „internationalen Wettbewerb“ zu schützen.[3] Das fördert Fabriken, in denen nur noch wenige Menschen arbeiten, und hebt den Klimaeffekt der Bepreisung wiederum auf.)
In der Landwirtschaft, wo Treibhausgase u.a. durch Düngemitteleinsatz und Viehhaltung entstehen und mit Abgaben belastet werden müssen, kann die Rückerstattung gleichmäßig pro Hof bzw. Betrieb stattfinden. Hierdurch würden nicht nur ökologisch wirtschaftende Betriebe unterstützt, sondern insgesamt die kleinbäuerliche Landwirtschaft gestärkt. (Die derzeitige Regierung hat die genannten Emissionen aus der Bepreisung ganz herausgenommen, weil es hierfür „keine entsprechende Anknüpfungsmöglichkeit“ gebe[4] – als ob man nicht beispielsweise für jedes Nutztier die entsprechende “Großvieheinheit” zugrunde legen könnte.[5] Dieses Unterlassen fördert weiterhin industrielle Massentierhaltung und klimapolitische Untätigkeit in diesem Bereich. Aber zugestandenermaßen ist dies lupenreine CDU/CSU-Politik, die der SPD nur insoweit angekreidet werden kann, als sie die Koalition daran nicht zerbrechen ließ.)
Die Kosten der Energiewende, für welche die SPD (und nicht nur sie: selbst die Grünen durchlöchern ihren Vorschlag für ein „Energiegeld“ mit dieser Idee) Mittel aus der CO2-Abgabe einsetzen will, müssen bei Berücksichtigung unseres Vorschlags freilich anders aufgebracht werden. Dies sollte im Rahmen eines haushaltspolitischen Gesamtkonzepts geschehen, das hier nicht entwickelt werden kann. Nur so viel als Hinweis: Die sofortige Beendigung der Subventionen fossiler Energieträger würde alleine im Energiesektor gemäß einer aktuellen Studie 17 Mrd. € jährlich ergeben[6], bei Hinzunahme des Verkehrssektors wären es zwei bis dreimal so viel.[7]
"Zukunftsprogramm": zukunftsfähig?
Kommen wir nun kurz zurück zum „Zukunftsprogramm“ der SPD, welches ja nicht koalitionäre Kompromiss-Ergebnisse rechtfertigen muss, sondern die genuinen Vorstellungen der Partei enthält. Wir hatten eingangs geschrieben, es gebe darin nur wenige konkrete Anwendungen der Einsicht, Klimaschutz sei „die soziale Aufgabe der nächsten Jahrzehnte“. Wir haben zwei gefunden. Erstens gelobt das Programm im Zusammenhang mit der geplanten CO2-Neutralität des Gebäudesektors: „Wir werden gesetzliche Regelungen schaffen, dass der CO2-Preis von den Vermieter*innen getragen wird.“ Die damit implizierte Entlastung von Mieter*innen ist eine lupenreine sozialpolitische Maßnahme – auch wenn unklar bleibt, wie verhindert werden soll, dass die Vermieter*innen sich dieses Geld an anderer Stelle von den Mieter*innen zurückholen. Zweitens steht im „Zukunftsprogramm“, die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung sollten zur Abschaffung der EEG-Umlage verwendet werden, und die Begründung lautet: „Diese Maßnahme leistet auch einen Beitrag zur sozial gerechten Finanzierung der Energiewende, weil dadurch die Stromrechnung deutlich sinkt.“ Erneut wird ausgeblendet, dass Vielverbraucher, also vor allem Reiche, besonders von dieser Maßnahme profitieren (während eine Rückerstattung pro Kopf zielgenau Ärmeren und Klimafreundlichen zugute käme). Erneut haben wir – diesmal in SPD-Reinschrift – eine Kombination von sich widersprechenden Maßnahmen. Warum?
Ist dies das letzte Wort der SPD zum sozialen Aspekt der Klimapolitik? Wir empfehlen, noch einmal darüber nachzudenken. Das Instrument der CO2-Umlage wäre für alle Interessierten verständlich, und seine Wirkung wäre auf jeder Ebene sowohl sozialpolitisch als auch klimapolitisch effektiv. Das wäre auch für die Akzeptanz in der Bevölkerung förderlich. Ein richtiger Wahlkampf-Knüller! Freilich gäbe es auch Verlierer. Und zwar jene, die im Berliner Regierungsviertel ein und aus gehen, für Parlamentarier*innen teure Partys schmeißen und zeitweise direkt in den Ministeriumsgebäuden (auch der sozialdemokratisch geführten Ressorts) Büros hatten, wo sie den Politiker*innen die Gesetze diktierten: die Lobbyisten. Deren Macht über das Regierungshandeln müsste freilich gebrochen werden. Aber wäre das kein lohnendes Ziel für eine Partei, die in ihrer langen Tradition einmal die Verdammten dieser Erde „zur Sonne“ führen wollte?
Das „Klimapaket“ der Großen Koalition wurde inzwischen vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Das eröffnet eine neue Chance auf echten Klimaschutz. Wird die SPD diese Chance ergreifen und damit auch echte Sozialpolitik betreiben, die sie aus dem „Agenda-2010“-Schandturm wieder erlöst?
Nachweise
[1] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Programm/SPD-Zukunftsprogramm.pdf
[2] https://www.spdfraktion.de/themen/soziale-klimapolitik
[5] https://information-medien-agrar.de/wissen/agrilexikon/grossvieheinheit-gv
Titelbild: CC BY-NC 2.0 Ruben Neugebauer / Campact