War das Karlsruher Urteil zur Klimaklage feige?
In diesem Artikel geht es um das Klima-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und besonders um die Fragen: "Reicht das? Geht es wirklich um Freiheit und nicht doch eigentlich um die Lebensgrundlage der Menschheit?" Unsere Autoren fordern eine ehrliche Sprache in Politik und Justiz, welche die verheerenden Folgen der Klimakatastrophe und unseres Nichtstuns klar benennt.
Mitten in der Pandemie, im März 2021, wurde das Klimaschutzgesetz der Bundesregierung vom Bundesverfassungsgericht für teilweise verfassungswidrig erklärt. In dem Urteil begründete das Gericht dies mit der Gefährdung grundrechtlich geschützter Freiheiten künftiger Generationen.
Ich, Thomas Bernhard, war einer der elf Einzelkläger, und zunächst einmal: Das Urteil hat mich gefreut, denn es war lange erwartet. Es hat uns Klägern Recht gegeben. Aber beim Lesen und aufgrund der weiteren politischen Entwicklung meine ich: es war feige, und wir hätten ein klareres Urteil gebraucht. Denn es hat eben nur auf die unzumutbaren Einschränkungen in der Freiheit der kommenden Generationen abgezielt, statt auf unverantwortbare Beeinträchtigung und die absehbare Vernichtung jeglicher Lebensgrundlagen der Menschheit. Denn genau das sagen übereinstimmend die Wissenschaftler:innen, auf die sich auch die Verfassungsrichter:innen mit Blick auf das Pariser Klimaschutzabkommen beziehen.
Das Urteil kritisiert, die Regierung mute kommenden Generationen Einschränkungen zu – ein Verlust an Freiheit – die schon jetzt berücksichtigt werden müssten. Dabei wird allerdings unterschlagen, dass wegen irreversibler Kippeffekte manche Aufgaben später gar nicht mehr angegangen werden können, weil es zu spät ist oder die Ressourcen mittlerweile fehlen.
Zum Beispiel ist es denkbar, dass durch Ressourcenkriege die Gelder fehlen, um schnell in einer noch stabilen politischen Ordnung Erneuerbare Energien aufzubauen. Es ist denkbar, dass eine internationale Koordination der Anstrengungen zu strukturellen Umstellungen schon in wenigen Jahren in zunehmendem Chaos politisch nicht mehr möglich ist. Einen Hinweis dafür geben die aktuellen Debatten rund um den Krieg in der Ukraine, wo neben dem Managen von Krisen wie Lebensmittelmangel oder Flüchtlingsunterbringung das Umsetzen von klimapolitischen Zielen nicht mehr gelingt, ja: sogar völlig von der Tagesordnung zu verschwinden droht.
Es gibt viele Freiheiten, die jetzt schon irreversibel verlorengehen: von Artenvielfalt zu profitieren, angenehm kühl zu schlafen, ohne Asthma zu leben, das Leben zu genießen, statt das Haus nach einem Orkan neu zu bauen, zu reisen, statt in Ressourcenkriege verwickelt zu sein.
Demgegenüber erscheint die Freiheit, einen Verbrenner statt ein e-Auto zu fahren, oder auf der Autobahn zu rasen statt 120 zu fahren, wie eine Luxusfreiheit. Dennoch wird genau diese Luxusfreiheit beispielsweise von der „Freiheitlich Demokratischen Partei Deutschlands“ verteidigt. Die Freiheitseinschränkungen im Sinne eines Komfortverlusts der Alten werden dem einfachen Überleben der Jugend gleichberechtigt gegenübergestellt. Dieser Diskurs wurde von dem in meiner Sicht feigen Karlsruher Urteil angelegt.
Warum "feige"? Zuerst hat das Urteil gemessen an Relevanz sehr lange auf sich warten lassen. Aufgrund der Klage und der Fakten hätte von Zerstörung von Lebensgrundlagen und existentieller Bedrohung gesprochen werden müssen. Stattdessen wurde das Klimaproblem auf unzumutbare Freiheitseinschränkungen reduziert und damit unerträglich bagatellisiert. Dabei hätten die tendenziell konservativen Richter:innen ihren gleichaltrigen und gleich sozialisierten Kollegen und wenigen Kolleginnen der CDU/CSU und SPD in Regierung und Parlament eigentlich ein klares "Setzen, sechs!" für ihr Zukunftsmanagement und Umsetzen ihrer jahrelangen Klimaschutz-Versprechen aussprechen müssen. Wir brauchen Treibhausgas-Emissionssenkungen so schnell wie möglich!
Beim Delikt "Mord" wird ein hartes Urteil gefällt. Aber hier, bei in Kauf genommener Tötung von Millionen Menschen oder vielleicht aller höherer Lebewesen aus Gewinnsucht, oder um wenige Jahre ein weiteres Leben wie bisher führen zu können, wird nur über Freiheit diskutiert. Hintergrund ist, dass Verbrechen in der Zukunft, die noch vor 50 Jahren in dieser Dimension nicht möglich schienen, kaum einmal in der juristischen Ausbildung erfasst sind. Genauso, wie in der Wirtschaft die Erkenntnis, dass auf einer endlichen Erde ein unendliches Wachstum nicht möglich ist, in der Lehre und Umsetzung nicht wirklich angekommen ist. Ich sehe hier die Feigheit, sich endlich mit den Fundamenten der Wissenschaft auseinander zu setzen.
Die Feigheit der Entscheidung hat unmittelbare und bis heute andauernde Konsequenzen. So wurden mit dem Urteil keine konkreten Maßnahmen eingefordert und sogar Peter Altmaier (CDU), der wesentlich zur Demontage des Ausbaus der Erneuerbaren Energien beigetragen hat, konnte es, sein Gesicht wahrend, als zukunftsweisend loben. Bis zur Bundestagswahl wurde politisch niemand zur Verantwortung gezogen. Bis heute wurden keine Budgets genannt, um die Erderwärmung Deutschland betreffend auf 1,5 Grad zu begrenzen. Es wird ein Zeitziel 2045 für Klimaneutralität genannt, unverständlich in Anbetracht der Budget-Berechnungen des Weltklimarats, wonach das Treibhausgas-Budget für Deutschland 2028 bereits erschöpft sein wird. Hinter den Kulissen wird von Regierungsmitarbeitern die Berechnungsgrundlage erklärt. Die Bundesregierung geht nicht wie der Weltklimarat von einem für alle Erdbürger gleichen Prokopf-Budget aus, sondern rechnet sich als Industrieland ein höheres Budget zu, wie vor wenigen Tagen in einem von der grünen Webinar-Reihe „Europe Calling“ veranstalteten Webinar durch Aussagen von Staatssekretär Patrick Graichen deutlich wurde (vgl. S. 14).
Bis heute hat die Bundesregierung keinen wirksamen Fahrplan zur Dekarbonisierung vorgelegt. Die alte Bundesregierung mit CDU/CSU und SPD hat vorhandene Konzepte torpediert, zum Beispiel durch Verschlechterung der Förderbedingungen im EEG, mit dem Ziel und Effekt, den Zubau der Erneuerbaren Energien herunterzufahren. Auch die neue Regierung arbeitet weiter mit dem Ziel bis 2045 klimaneutral zu werden, obwohl dieses Ziel nur dann ausreichen würde, wenn bis 2030 weit mehr als die Hälfte erreicht wäre und nur noch die letzten wenigen Emissionen 2045 enden.
Der Druck muss erhöht werden, um Klimaschutz zu erreichen. Dazu gehört die Inpflichtnahme von Regierung, Gesetzgeber, und Rechtsprechung. Dazu die vierte Macht, die Medien. Und alle sind nicht voneinander unabhängig, denn es gibt unter anderem sehr enge personelle Verflechtungen. Die wissenschaftliche und ideologische Basis dieser Akteure muss sich endlich an die Realität anpassen: Es gibt kein unendliches Wachstum in einer endlichen Welt, Verbrechen, die sich in der Zukunft auswirken und die Menschheitsexistenz bedrohen, müssen heute bestraft und verhindert werden. Beides gehört in die aktualisierte Lehre an den Universitäten, hier sind unsere Wissenschaftler:innen gefragt.
Nach Art. 20a GG ist, wenn alle anderen Wege gegangen wurden, bei Bedrohung der Demokratie Widerstand erlaubt. Wo international agierende Konzerne ihre Büros neben Parlamentariern haben und viele Politiker in ihren Handlungen diesen zuarbeiten und dabei frühere politische Aussagen nicht mehr in der Politik zu erkennen sind, wo die Wähler:innen dann „Alternativlosigkeit“ spüren und die Wahlbeteiligung sinkt, da ist die Demokratie unterhöhlt und bedroht. Gerichte, die hier nur spät und dann halbherzig Stellung beziehen, die aufgrund ihrer personellen Besetzung nicht unabhängig sind und Missstände so wenig kritisieren, tragen zur Rettung der Demokratie nur unzureichend bei.
Das ruft die Zivilgesellschaft auf, sich noch stärker zu engagieren. Unser Engagement muss strukturell ausgerichtet sein. Individuell klimagerechtes Verhalten ist zwar Basis weiteren Engagements, aber nicht ausreichend. Wir brauchen Strukturen: Fliegen muss immer teurer sein als Bahnfahren, und Massentierhaltungsfleisch teurer als Biofleisch.
Wir alle sollten uns informieren, darüber was kommt, wenn wir so weitermachen, aber vor allem darüber, wie wir es noch verhindern oder abmildern können. Und daher sollte jede und jeder von uns mindestens ein Klimabuch lesen, sich über seriöse Podcasts oder Blogs informieren. Empfehlungen siehe unten. Und dann sollten wir uns einmischen, überall und ständig, in der Nachbarschaft, bei Freunden, im Betrieb, kommunal und, wenn es gelingt, auch bundesweit. Dazu ist es gut, sich mit Freunden zusammen zu tun, oder im SFV, BUND oder bei Fridays for Future oder sonstwo mitzumachen.
Dieses Engagement in jeder Öffentlichkeit für Klimaschutz ist das wichtigste, und es stellen sich tatsächlich immer mehr Erfolge ein. Aber wir müssen es auch tun, denn wie am Karlsruher Urteil abzulesen ist, sind die alten Ideolog:innen immer noch in Amt und Würden und arbeiten sich zu. Vielleicht war es nicht feige, sondern berechnet. Aber wir werden immer mehr und sind überzeugend.
Unsere Buchtipps
Linus Bernhard
geboren 1996, wuchs in Koblenz auf und studierte anschließend Betriebswirtschaft in Augsburg. In seinem derzeitigen Masterstudium „Public and Nonprofit Studies“ an der Universität Hamburg beschäftigt er sich unter anderem mit nachhaltigen Wirtschaftsformen, Umweltökonomie und europäischer Klimapolitik.
Thomas Bernhard
geb. 1958, Medizinstudium in Aachen. Ab 1992 als Internist in einem Krankenhaus in Tansania tätig, seit 1996 niedergelassener Arzt für Allgemein-, Umwelt- und Betriebsmedizin in Koblenz. Seit 1997 Mitglied des SFV. In Koblenz ehrenamtlich engagiert in Umweltanliegen, Schwerpunkt Klimafolgen, Energie und Bezug zu Ländern des Südens.