Wenn die Vertrauensbildung zum Schlüsselfaktor wird

- Kulturökonomische Überlegungen zum Wirtschaftsstandort Deutschland -


Von Holger Bonus


Der Autor
Der 1935 geborene Holger Bonus unterichtet an der Universität Münster Volkswirtschaftslehre, wo er auch als Direktor dem Institut für Genossenschaftswesen vorsteht. Zu den heutigen Forschungsschwerpunkten des Prof. Dr. Bonus gehören Umweltökonomie (Mitgliedschaft der Enquete-Kommission "Schutz des Menschen und der Umwelt" des Deutschen Bundestages), neue Institutionenökonomie sowie Kulturökonomie.


Es steht nicht gut um den Wirtschaftsstandort Deutschland; wir haben Massenarbeitslosigkeit. Ist das eine Folge überhöhter Löhne? Alteingesessene Produktionen wie Bergbau und Werftindustrie rechnen sich längst nicht mehr in der Bundesrepublik; Korea und ähnliche Standorte können solche Erzeugnisse inzwischen günstiger herstellen. Global stehen wir unter einem harten Konkurrenzdruck und werden lohnintensive Produktionen nicht länger im Lande halten können. Nun steht ein hohes Lohnniveau internationaler Wettbewerbsfähigkeit an sich nicht im Wege.

Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts entwickelte David Ricardo seine Theorie komparativer Kostenvorteile, um seinen Landsleuten klarzumachen, dass England sich auch angesichts der Konkurrenz von Niedriglohnländern wie Portugal nicht mit Zollmauern umgeben müsse, sondern sich besser dem Freihandel stellen sollte. Nicht die absoluten Kosten zählten, so Ricardo, sondern die relativen, d. h. die komparativen Kosten.

Ein Wahrnehmungsdefizit

Wir müssen uns also fragen, wo unsere eigenen Kernkompetenzen liegen. Was können wir besser als andere Länder? Sicher zählen Kohlebergbau und Werftindustrie nicht zu unseren Kernkompetenzen, und wir sollten diese Produktionen schleunigst einstellen. Nur zeigt die jüngste Vergangenheit, dass die völlig unwirtschaftlichen Arbeitsplätze dieser Branchen emotional hoch besetzt sind. Eindrucksvolle Demonstrationen zeigten, dass solche Arbeitsplätze in den Augen der Bevölkerung unbedingt erhalten bleiben sollen, auch wenn jeder einzelne davon den Staat nicht weniger als 130 000 Deutsche Mark jährlich kostet. An den Demonstrationen beteiligt waren auch Menschen, die persönlich nicht betroffen waren. Da die hohen Subventionen auf Kosten der Steuerzahler gehen und das Konservieren veralteter Strukturen zu einer weiteren Verhärtung der Sklerose und mithin zu noch mehr Arbeitslosigkeit führt, demonstrierten die Bürger gegen ihre eigenen Interessen. Warum taten sie das?

Der tiefere Grund liegt in einer für unsere Zeit typischen Spannung zwischen Realität und Wahrnehmung. Die Menschen empfinden die drohenden Betriebsschließungen als ungerecht. Jeder kann doch sehen, denken sie, wie einschneidend die sozialen Folgen solcher Schließungen sind, wie hart die Kumpel arbeiten und wie gut die Kohle ist. Die niedrigen Preise von Importkohle müssen auf Lohn- und Sozial-dumping beruhen, vielleicht sogar auf Kinderarbeit oder auf unzulässigen Subventionen. Die Reaktion auf solche Ungerechtigkeit besteht in Wut und heftigen Emotionen. Mit rationalen Argumenten alleine ist in einer solchen Situation wenig zu erreichen.

Hinter dieser Erscheinung steht ein Wahrnehmungsdefizit. Die ökonomische Realität ist abstrakt, Ricardos Theorie nicht anschaulich. Die Wahrheit - die betroffenen Arbeitsplätze sind unwirtschaftlich geworden - ist sinnlich nicht wahrnehmbar, während das geradezu handgreiflich Erlebbare nicht der Realität entspricht. Aus anthropologischen Gründen kann der Mensch wirklich begreifen nur, was gewissermaßen mit Händen zu greifen und sinnlich zu überprüfen ist.

Vertrauen als zentraler Faktor

Die schwindende Anschaulichkeit der wirtschaftlichen Welt um uns herum hat zu einer für uns wichtigen Unterscheidung der Güter nach drei Kategorien geführt. Neben den Suchgütern gibt es Erfahrungs- und Vertrauensgüter. Beginnen wir mit den Suchgütern. Man kennt ihre Qualität und muss nur zusehen, wo man sie findet.

Ein Beispiel wären etwa Kartoffeln oder Tomaten. Bei Suchgütern kennt man sich aus und weiß, was einen erwartet. Demgegenüber erschließt sich die Qualität von Erfahrungsgütern erst beim Konsum. Fischkonserven sind ein Beispiel: man muss sie kaufen und die Dose öffnen, bevor man ihre Qualität beurteilen kann.

Die für uns wichtigste Kategorie ist die der Vertrauensgüter. Hier erschließt sich die Qualität dem gewöhnlichen Verbraucher fast überhaupt nie, weil er sie nicht wirklich beurteilen kann. Das beginnt mit dem Rechtsanwalt, von dem man aber nicht sagen kann, ob er sich voll ins Zeug legt oder nur Routinebriefe schreibt, über Ärzte und Makler bis hin zum Vermögensverwalter einer Bank, von dem man auch nicht weiß, ob die empfohlenen Papiere wirklich den eigenen Bedürfnissen angemessen sind oder ob sie nur deshalb vorgeschlagen werden, weil die Marge für die Bank bei ihnen am höchsten ist.

Je komplexer die Welt wird, desto wichtiger werden Spezialisten, deren Qualität und Engagement man als Außenstehender aber nicht beur-teilen kann. Deshalb nimmt die Verunsicherung des Verbrauchers ständig zu. Einer Luftlinie vertraut man nolens volens sein Leben an, dem Computerhersteller, der Software-Industrie, Versicherungsagenten, Automobilherstellem und der Lebensmittelindustrie muss man wohl oder übel Glauben schenken. Weil Vertrauensgüter unseren Alltag dominieren, entscheidet Vertrauen über den Erfolg der Wirtschaft. Mithin ist das Vertrauen zu einem zentralen Wirtschaftsfaktor geworden.

An der Glaubwürdigkeit hängt alles

In der Tat spielt die Theorie des Vertrauens in den Wirtschaftswissenschaften eine immer wichtigere Rolle. Man vertraut, wenn man erfahren hat, dass beim Gegenüber verlässliche Normen und Werte internalisiert sind. In diesem Falle weiß man etwas Positives über den Partner, er hat in der Vergangenheit bewiesen, dass er vertrauenswürdig ist, indem er Gelegenheiten nicht wahrnahm, bei denen er uns hätte übervorteilen können. Wenn man dem Partner vertraut, braucht man das Kleingedruckte nicht zu lesen und kann auf zeitraubende und aufwendige Sicherheitsmaßnahmen verzichten.

Dominanz der Experten

Verwandt mit dem Vertrauen ist Reputation. Jetzt stammt die positive Erfahrung von glaubhaften Dritten. Man hört von Bekannten und Freunden, dass ein bestimmter Experte oder potentieller Geschäftspartner vertrauenswürdig sei. "Ein toller Anwalt!" heißt es dann etwa. Es ist klar, dass für Unternehmen auf dem Markt für Vertrauensgüter die Reputation von größter Bedeutung ist. Vertrauen und Reputation sind wichtige Kapitalgüter; man investiert in Vertrauenskapital. Solches Kapital zieht Kunden an und bewirkt, dass man als Partner im Einzelfall auch danebenliegen darf. Dem Vertrauenswürdigen wird verziehen, weil man ihm glaubt, dass sein Fehltritt ein Versehen war und nicht Anzeichen für den Verfall innerer Normen und Werte.

Je weniger man sich auf die eigenen Sinne verlassen kann, um so entscheidender kommt es auf Vertrauen und Glaubwürdigkeit an. In zunehmendem Maße können nur noch Experten jene komplexen Sachverhalte überblicken, die uns umgeben. Aber die Kompetenz von Experten reicht nicht aus, um Vertrauen zu schaffen.

Wenn Experten versichern, eine Ware sei einwandfrei oder eine Großmülldeponie sicher, so hilft das nur, wenn solche Experten glaubwürdig sind. Wenn man den Experten nicht glaubt, weil sie nicht glaubhaft sind, dann können ihre Aussagen noch so wahr sein - sie bewirken nichts mehr. Ohne Glaubwürdigkeit sind Experten dem Publikum gegenüber nutzlos.

Die Achillesferse des Fortschritts

Wenden wir uns der Gentechnologie zu. Sofort fällt ins Auge, dass in diesem Falle den Experten kein Vertrauen entgegengebracht wird. Mangelndes Vertrauen in die Experten ist zunächst einmal darauf zurückzuführen, dass ihnen keine Unabhängigkeit zugetraut wird (es kommt nicht darauf an, ob sie tatsächlich unabhängig sind oder nicht, sondern ob sie draußen als unabhängig empfunden werden). Zudem gibt es im Falle der Gentechnologie sehr wenig Experten. Es handelt sich meist (zumindest in den Augen der Öffentlichkeit) um weisungsgebundene Angestellte des jeweiligen Konzerns. Das Publikum glaubt zu wissen, dass diese Gruppe niemals zu einem negativen Konsens finden wird.

In diesem Syndrom liegt einer der Gründe für mangelnde Glaubwürdigkeit. Dem Publikum muss aus vielen und im einzelnen vielleicht unwichtigen Details mit der Zeit deutlich werden, dass jemand es wirklich ernst meint mit der Wahrheit. Gerade das hat die Industrie in der Vergangenheit zu oft versäumt. Sie hat unwissentlich folgenschwere Fehler gemacht.

Wie die negative Reputation entsteht

Ein Beispiel mag dies illustrieren. Als das "Waldsterben" die Menschen in hohem Maße beunruhigte, stellte das Publikum im Saale den Podiumsteilnehmern oft kritische Fragen zu diesem Phänomen. Immer wieder geschah es dann, dass ein hochrangiger Industrievertreter den Fragenden unsanft belehrte, es gebe überhaupt kein Waldsterben. Man möge sich doch nicht zu unbegründeten Emotionen hinreißen lassen, sondern sich an die Fakten halten. Diese aber belegten, dass der Wald nicht in Gefahr sei. Wohlgemerkt ist es uninteressant, ob solche Einlassungen sachlich begründet waren oder nicht. Es geht um Stilfragen. Das einfache Wegleugnen von Evidenzen, welche die Menschen subjektiv als beunruhigende Realität empfinden, ruiniert die Glaubwürdigkeit der betroffenen Gruppe in den Augen des Publikums. Die Zu-hörer denken für sich (und erinnern sich dabei an drastische Bilder und Kommentare in den Medien): "Aber da sind doch nun einmal diese schweren Schädigungen, ich habe sie mit eigenen Augen gesehen! Man kann doch nicht einfach behaupten, da wäre gar nichts. Wer so etwas sagt, der muss lügen!" Das wird empört den Freunden und Bekannten berichtet: die Zuhörer bei solchen Veranstaltungen sind potente Multiplikatoren. So entsteht negative Reputation.

Wo man die komplexe Realität persönlich weder erfahren noch beurteilen kann, kommt es wesentlich auf den Stil an, in dem argumentiert wird. Falscher Stil entlarvt den Lügner. Die Zuhörer schlossen aus dem Stilfehler der Industrievertreter, dass diese etwas zu verbergen hätten und man ihnen deshalb nicht trauen dürfe. Ähnlich ist die gelegentlich aufgetauchte Behauptung zu bewerten, Gentechnologie sei völlig ungefährlich. Innovationen sind nie ohne Gefahr; Schumpeter sprach geradezu von "schöpferischer Zerstörung". Jemand, der behauptet, eine Innovation sei absolut gefahrlos, kann nicht die Wahrheit sagen und macht deshalb die Gruppierung unglaubwürdig, in deren Namen er spricht.

Wo man Argumenten nicht traut und komplexe Sachverhalte nicht selbst beurteilen kann, da werden Symbole zentral. Hier war die ausgediente Ölverladestation Brent-Spar ein Fanal. Bilder gingen um die Welt. Feuerwehrboote waren zu sehen, die starke Wasserstrahlen gegen wehrlose Menschen richteten. Diese hingen in großer Höhe über dem Meer, wirkten einsam und hilflos den Elementen ausgesetzt. Die Folge war ein Aufschrei der Empörung, der die Shell nach einiger Zeit zum Aufgeben zwang. Dabei wäre es vielleicht objektiv besser gewesen, die Brent-Spar tatsächlich zu versenken. Aber für rationale Erwägungen gab es keinen Platz mehr, die Bilder waren viel zu prägend und symbolisierten für jedermann, wie ein Weltkonzern seine geballte Macht gegen einzelne mutige und für eine gute Sache kämpfende Individuen wandte, die ihm im Wege waren. Ob das tatsächlich zutraf oder nicht, war unerheblich. Wichtig ist, dass aus Symbolen Handlungszwänge erwuchsen.

Auf die Kultur kommt es an

Für Deutschland gilt das Gesagte in besonderem Maße; andere Nationen sind gelassener. Im Zuge der Globalisierung muss Deutschland Wirtschaftsaktivitäten forcieren, auf die es sich am besten versteht; es muss sich auf seine Kernkompetenzen konzentrieren. Die aber liegen weder im Bergbau noch in der Werftindustrie, sehr wohl aber bei der Gentechnologie, Kernenergie und verwandten Aktivitäten.

Deutschland braucht Innovationen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Innovationen sind nie ohne Gefahr; Bewährtes geht unter, Neues entsteht, von dem neben Zukunftsperspektiven auch schwer einzuschätzende Gefahren ausgehen. Die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland hängt nicht zuletzt davon ab, ob wir aus der gegenwärtigen Sklerose herausfinden und ob wir Innovationen akzeptieren können. Das erwähnte Anschauungsdefizit macht das schwer. Wir haben große emotionale Probleme damit, traditionsreiche Gewerbe untergehen zu lassen. Kann die richtige Innovationspolitik glaubhaft gemacht werden? Was kann man dem sachlich Verfehlten, aber sinnlich Wahrnehmbaren entgegenhalten?

Den Innovatoren mangelt es aus vielen Gründen an Glaubwürdigkeit, und man muss sich fragen, wie sie zu erreichen ist. Glaubhaft kann nur sein, wer auf Ängste eingeht, auch wenn er sie irrational findet. Man muss verstehen, dass sich die Menschen schwer zurechtfinden in dieser rasch sich wandelnden und gefahrvollen Welt, dass sie misstrauisch sind, während Organisationen wie Greenpeace in hohem Maße glaubwürdig erscheinen.

Wenn es darum geht, Glaubwürdigkeit zu gewinnen, darf man nicht bei Winkelzügen Zuflucht suchen. Man muss rückhaltlos ehrlich sein, auch wenn das der eigenen Sache zu schaden scheint. Die Wahrheit kommt unweigerlich an den Tag. Wenn das aber scheibchenweise und nach vorherigem Leugnen geschieht, sind die Folgen für die eigene Glaubwürdigkeit verheerend und kaum wieder gutzumachen. Es kommt auf Wahrhaftigkeit an, auf Geduld, Sensibilität, sicheres Stilempfinden und einen ausgeprägten Sinn für Symbole. Solche Eigenschaften kann man nicht schauspielern, das Publikum lässt sich da nicht täuschen. Stilbrüche zerstören unweigerlich Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Glaubwürdigkeit kann man nicht fabrizieren, sie muss langsam wachsen und kultiviert werden. Für die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland kommt es ganz erheblich auf Kultur an.


Anmerkungen der SFV:

Wir betonen, dass wir nicht in allen Punkten - z.B. Kernenergie etc. - mit den Einschätzungen des Autors übereinstimmen.