Für Sie getestet: Der Nuklearia-Energiewende-Rechner
Der SFV-Energiewenderechner, mit dem man unter https://www.sfv.de/ewr den Strommix der Zukunft über verschiedene Variabeln am Bildschirm optimieren konnte, ist nicht mehr aktiv. Er müsste neu programmiert und auch in allen Parametern neu berechnet werden, was bislang unsere Kapazitäten überstieg.
Sucht man heute im Internet nach „Energiewenderechner“, findet man unter https://energiewende-rechner.org ein anderes Tool. Auch hier kann man mit Schiebereglern den Anteil unterschiedlicher Stromquellen variieren und die Folgen für den Flächenverbrauch oder den CO2-Ausstoß anzeigen lassen. Dennoch hat dieses Angebot wenig mit dem SFV-Energiewenderechner gemein. Es wird von der Pro-Atom-Lobbyorganisation „Nuklearia“ betrieben. Und, potzblitz! Alles Experimentieren mit den Schiebereglern führt zu dem Ergebnis, dass der Strommix der Zukunft möglichst viel „Kernenergie“ enthalten müsse.
Dieser „Energiewende-Rechner“ gibt nicht preis, auf welchem Kenntnisstand er stehen geblieben ist. Neuere Quellen als aus 2015 wurden jedenfalls nicht genutzt. So ist es ja oft im Internet: Man weiß gar nicht, wie veraltet das ist, was man gerade liest. Alles wirkt aktuell, und neuere Einsichten bleiben verborgen. Inzwischen ist der Kampf um die Atomenergie in Deutschland entschieden; aber dieses Propaganda-Tool läuft einfach weiter und entfaltet auch unabhängig von der Frage deutscher Atomreaktoren seine ideologische Wirkung.
Wir wollen es uns einmal näher anschauen, auch weil es als symptomatisch für gewisse Argumentationstechniken gegen die Erneuerbaren Energien erscheint.
Zur Begrifflichkeit: „Energiewende-Rechner“?
Die Bezeichnung als „Energiewende-Rechner“ ist bei dem Nuklearia-Produkt grob irreführend. Es handelt sich vielmehr um einen Energiemix-Rechner, der die fossilen und atomaren Energiequellen mindestens gleichberechtigt behandelt. Die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit einer Energiewende liegt dem Design nicht zugrunde. Vielmehr wurden einige Kriterien herausgesucht, die entweder eine Energiewende nahelegen – dort liegen dann große handwerkliche Fehler vor –, oder die gerade gegen eine solche sprechen sollen. Um nicht denselben Fehler zu machen wie Nuklearia, wollen wir den Begriff der Energiewende hier definitorisch bestimmen. Wikipedia definiert sie als „Übergang von einer nicht-nachhaltigen Nutzung fossiler Energieträger und der Kernenergie zu einer nachhaltigen Energieversorgung mittels erneuerbarer Energien“. Der Duden bestimmt Energiewende als „Ersatz der Nutzung von fossilen und atomaren Energiequellen durch eine ökologische, nachhaltige Energieversorgung“. So ist es klar und vernünftig, und an diese Begriffsverwendung wollen wir uns (anders als Nuklearia) halten.
Im Einzelnen berücksichtigt der Nuklearia-„Energiewende-Rechner“ die folgenden Kriterien:
Flächenverbrauch
Bei der Sparsamkeit des Flächenverbrauchs gewinnen bei Nuklearia Erdgas und Atomkraft. Wie kommt es zu diesem Ergebnis?
Für die Windenergie legt der „Energiewende-Rechner“ eine Studie des BMVI zugrunde, in der es heißt: „Als Durchschnittswert bekannter Flächenbedarfe können ca. 5 ha je MW installierter Leistung angenommen werden“. Das wären z.B. für ein einziges 4-MW-Windrad 20 Hektar, entsprechend einem Quadrat mit 447 Meter Kantenlänge. Tatsächlich werden für ein solches Windrad 0,035 ha versiegelt, pro MW also weniger als 0,009 ha. Selbst wenn man zur Berechnung des Flächenverbrauchs die gesamte vom Rotor überstrichene Fläche betrachtet, kommt man auf nur 0,375 ha/MW, ein Dreizehntel der vom „Energiewende-Rechner“ veranschlagten Zahl.
Sowohl hinsichtlich der Windenergie als auch der Photovoltaik geht die genannte Studie vom technischen Stand des Jahres 2015 aus. So werden hinsichtlich des Landschaftsverbrauchs von PV-Freiflächenanlagen Wirkungsgrade von 15% der Module zugrunde gelegt – eine Zahl, die längst überholt ist. Der Flächenbedarf pro MWp, der 2012 noch bei ca. 2,5 ha lag, war 2022 auf 0,7 bis 1,5 ha gesunken.
Bei der Flächenbedarfsberechnung für PV nimmt der „Energiewende-Rechner“ zudem an, dass die (flächenschonenden) Potenziale für Dach-PV bei nur 142 TWh pro Jahr liegen, das entspräche bei durchschnittlich 1000 Volllaststunden pro Jahr einer installierten Kapazität von 142 GW. Eine Literaturrecherche der „Stiftung Klimaneutralität“ geht demgegenüber 2021 von einem Potenzial von 390 GW auf Dächern in Deutschland aus; hinzu kommen weitere 320 GW möglicher Fassaden-PV. Und: Welchen Verbrauch an „Landfläche“ der „Energiewende-Rechner“ etwa bei Agri-PV, Floating PV oder der PV-Überdachung bereits versiegelter Flächen (Parkplätze, Straßen usw.) zugrunde legt, ist nicht ersichtlich; vermutlich wurden diese Möglichkeiten aber überhaupt nicht berücksichtigt.
Bei der Berechnung des Flächenverbrauchs fossiler und atomarer Energiegewinnung ist man hingegen großzügig. Im Kleingedruckten des „Energiewende-Rechners“ wird offengelegt: „Abgesehen vom Pflanzenanbau für Biomasse wird die Brennstoffgewinnung für thermische Kraftwerke (z. B. Kohle- und Uranabbau) nicht berücksichtigt, ebenso wie andere Infrastruktur neben den eigentlichen Kraftwerken.“ Eine Auslassung, die den Vergleich weiter zugunsten dieser thermischen Kraftwerke verfälscht. Was rechtfertigt dieses Vorgehen? Wir erhalten keine Antwort.
Summa: In der Frage des Flächenverbrauchs ist der Nuklearia-„Energiewende-Rechner“ stark verzerrend und deshalb unbrauchbar.
Abb.: Screenshot vom Nuklearia-"Energiewende-Rechner". Ein Mix aus Erneuerbaren Energien soll zu einem grotesken Landschaftsverbrauch führen.
Abb.: Screenshot vom Nuklearia-"Energiewende-Rechner". Wählt man eine reine Atomstrom-Versorgung, bleibt die Landschaft fast unberührt - ein paar Rechentricks vorausgesetzt.
Todesfälle je TWh
Es ist wenig überraschend, aber auch wenig überzeugend, dass bei Nuklearia in diesem Punkt die Atomenergie besonders günstig abschneiden soll. 0,08 Todesfälle stehen hier z.B. 0,44 Todesfällen bei der Solarenergie gegenüber. Dabei bezieht sich der Nuklearia-„Energiewende-Rechner“ auf eine Studie, die 2007 (vor dem Fukushima-Super-GAU) in der Zeitschrift „Lancet“ veröffentlicht wurde. Diese Studie erscheint als Gefälligkeitsarbeit gegenüber der Nuklearindustrie. Über die Atommüll-Frage wird dort z.B. gesagt: „To date there have been no serious incidents arising from the high-level waste.” Der "Kyschtym-Unfall" von 1957 in der sowjetischen Atomanlage Majak, bei dem ebenso viel Radioaktivität freigesetzt wurde wie bei der späteren Tschernobyl-Katastrophe, muss vollständig ausgeblendet werden, um zu einem solchen Urteil zu gelangen.
Die Zahlen der Todesopfer durch Nuklearkatastrophen (wie auch durch die niedrige radioaktive Strahlung im Normalbetrieb) ist hochgradig umstritten. Die meisten Todesfälle sind auf strahleninduzierte Krebserkrankungen zurückzuführen, die in zeitlichem Abstand zur Strahlenexposition auftreten. Die individuelle Zurechnung ist deshalb unmöglich, was z.B. die Weltgesundheitsorganisation WHO, die unter dem Einfluss der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEO steht, dazu bringt, den Zusammenhang insgesamt zu leugnen. Die WHO spricht z.B. von nur 50 Todesfällen in der Folge der Tschernobyl-Katastrophe. Die „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs“ (IPPNW), die auch stochastische Strahlenschäden berücksichtigen, schätzen die Opferzahl in der Größenordnung von hunderttausenden Fällen. Die Nuklearia-Zahl von 0,08 Todesopfern pro TWh müsste demnach dahin korrigiert werden, dass jedenfalls keine Null vor dem Komma steht.
Die Lancet-Studie äußert sich nicht zu Todesfällen, die durch Erneuerbare Energien hervorgerufen wurden. Hierfür verweist der „Energiewende-Rechner“ auf eine „Statista“-Grafik. Folgt man dem Link, findet man zwar ebenfalls die kleingerechneten Zahlen für die Atomenergie. Hinsichtlich der Solarenergie ist allerdings nicht von 0,44 Todesfällen pro TWh die Rede, sondern von 0,02 – ein Zweiundzwanzigstel des behaupteten Werts.
Summa: Hinsichtlich der Angabe von „Todesfällen pro TWh“ ist der Nuklearia-„Energiewende-Rechner“ wertlos.
Spezifische CO2-Emissionen
Hier bezieht sich der „Energiewende-Rechner“ auf Zahlen des IPCC von 2014. Danach liegt der Median der Emissionen im Falle der Atomenergie bei 12 g/kWh – etwa so niedrig wie bei der Windenergie und deutlich niedriger als bei der Photovoltaik, die bei 44 g/kWh liegt. Diese Zahlen stimmen (jedenfalls für 2014), auch wenn die IPCC-Berechnungen zur Atomkraft am unteren Ende der Zahlen angesiedelt sind, die von entsprechenden Studien diskutiert werden. Die Schwierigkeit besteht darin, die Emissionen über den gesamten Brennstoffkreislauf (Bergbau, Transport, vor allem Anreicherung und Brennelementeproduktion) einzuberechnen. Die Lagerung und Bewachung des Strahlenmülls über extrem lange Zeiträume lässt sich ohnedies nicht sinnvoll in eine solche Rechnung einbeziehen.
Summa: Der CO2-Ausstoß der Kerntechnik wird tendenziell (aber schwer quantifizierbar) geschönt.
Ressourcenverbrauch in t/TWh
Dieser Wert ist ziemlich deutlich mit der Energiedichte eines Energieträgers gekoppelt. Deshalb müssen die Erneuerbaren hier schwach abschneiden, während die Atomenergie (nach dem Erdgas) als strahlende Zweite auf dem Siegertreppchen steht.
Da der Link zur angegebenen Quelle (ein Bericht des US-amerikanischen DOE) nicht funktioniert, lässt sich nicht überprüfen, welche Lebensdauer etwa von PV-Modulen den Annahmen zugrunde liegt. Der Ressourcenverbrauch je TWh halbiert sich hier, wenn die Lebensdauer verdoppelt gedacht wird. Und selbst die Hersteller unterschätzen die Lebensdauer von Solarmodulen. Umgekehrt wüsste man auch gerne, welche Laufzeit von Atomkraftwerken der Berechnung zugrunde gelegt wird.
Überdies ist es etwas holzschnittartig, den Ressourcenverbrauch in Tonnen anzugeben, ohne zu unterscheiden, um welche Ressourcen es sich im Einzelnen handelt. Eine Tonne Steine ist sozusagen anders zu bewerten als eine Tonne Gold. Eine solche qualitative Unterscheidung würde zwar nicht automatisch zugunsten der Erneuerbaren ausschlagen, aber gewiss automatisch zuungunsten der Atomenergie, deren Brennstoff auch verglichen mit fossilen Energieträgern ein Vielfaches kostet. Ganz zu schweigen von den tausenden Quadratkilometern nach Atomkatastrophen unbewohnbar und unbeackerbar gewordener Böden, die in der Nuklearia-Rechnung selbstredend fehlen.
Man hat bei diesem „Energiewende-Rechner“ offenbar händeringend nach Kriterien gesucht, bei denen die Erneuerbaren schlecht aussehen. Der Ressourcenverbrauch dürfte auch den „Economies of Scale“ unterliegen, so dass wenige große Erzeugungsanlagen besser abschneiden als viele kleine. Solche Kriterien führen also zu dem Ergebnis, dass die „Energiewende“ in der herkömmlichen Erzeugungsstruktur aus Großkraftwerken enden muss, am besten natürlich aus „Kernkraftwerken“.
Summa: Man kann gigantomanische Industriepolitik mit einem ökologischen Mäntelchen verkaufen.
Was fehlt?
Dass es in diesem „Energiewende-Rechner“ keinen Vergleich der radioaktiven Belastung durch verschiedene Stromerzeugungsarten in Becquerel pro Jahr gibt, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Aber es gibt noch weitere charakteristische Auslassungen.
So wäre es nach der Logik des „Energiewende-Rechners“ eigentlich naheliegend, die Kostenfrage anzusprechen: Wieviel kostet die Vermeidung einer Tonne CO2 bei Verwendung von Atomkraft, im Vergleich mit Wind oder Sonne? In diesem Punkt sind Solar und Wind unschlagbar, wie man u.a. im letzten IPCC-Bericht nachlesen kann. Das hat ja auch etwas mit „Ressourcenverbrauch“ zu tun. Aber selbstredend fehlt dieser Aspekt im Nuklearia-„Energiewende-Rechner“.
Summa: In der Kriterienauswahl zeigt sich der ideologische Standort.
Fazit
Nicht überall, wo „Energiewende-Rechner“ drauf steht, ist auch ein Energiewenderechner drin. Wir können nur davor warnen, dieses Nuklearia-Propagandawerkzeug mit dem früheren Energiewenderechner des SFV zu verwechseln.
Titelbild: Eine "Mahnwache" von Nuklearia vor dem AKW Grohnde am Tag seiner Abschaltung, dem 31.12.2021 (Screenshot von einem Video). Der Verein agitiert bis heute für eine Atom-Renaissance.