Es geht nicht nur um Freiheit, sondern ums Überleben
Ein Freund beklagte sich neulich bei 35°C über die Hitze. Ich sagte ihm, das sei nur vorübergehend; wir werden 40, 45 und 50°C bekommen. Es machte ihn nachdenklich – die Katastrophe rückt näher. Schon jetzt führen Hitzewellen in Deutschland und überall auf der Welt zu Übersterblichkeit, in Deutschland sind es etwa 10.000 bis 20.000 Tote jährlich. Betroffen sind vor allem Alte, chronisch Herz-Kreislauf- und Lungenkranke und Kinder. Wir haben vermehrt Frühgeburten, ab dem dritten Hitzetag. Die durch fossile Emissionen erhöhten hochreaktiven Stickoxide setzen sich an Pollen und verschlimmern Allergien. Durch Mücken übertragene Krankheiten breiten sich aus.
Gleichzeitig nehmen Depressionen und Klimaangst nachvollziehbar zu. Hier ist auch ein Schlüssel zum Verständnis für Aktionen der Letzten Generation, die auf die realen Katastrophen der Erderwärmung hinweisen und politische Maßnahmen fordern, dabei aber selbst Kriminalisierung ausgesetzt sind und trotz ihrer gewaltlosen und transparenten Aktionsformen wie Terroristen angesehen werden.
Auch Aggressionen nehmen bei Hitze nachweislich zu. Neben Depressionen und Ängsten steigen auch Traumafolgen wie posttraumatische Belastungsstörungen an: durch Erlebnisse wie im Ahrtal, Hitzestress, eventuell auch Flucht. Migration kann eine verzweifelte Form von Klima-Anpassung sein. Geflüchtete hinterlassen im Heimatland Lücken, und sie sind sehr oft traumatisiert.
Die Belastung des Gesundheitswesens durch all diese Erkrankungen ist enorm. Hitzeaktionspläne fehlen, für die aufsuchende Betreuung alleinstehender Senioren oder Obdachloser sowie die Änderung der Medikamentenpläne. Im Krankenhaus werden bei Hitzewellen vermehrt Fälle mit Nierenversagen, Herzinfarkten, Frühgeburten behandelt. Die Arbeit ist erschwert, denn oft muss auch bei erhöhten Innenraumtemperaturen Vollschutzkleidung getragen werden. Ich schreibe das, weil nach der Belastung die Dekompensation folgt, wegen mangelnder Ressourcen, und dann nur noch punktuell das Wichtigste versorgt werden kann. In einer Zukunft mit Dürren, Wassermangel, Nahrungsknappheit, Aggression, Konflikten lassen sich Strukturen nur schwer oder gar nicht mehr aufrechterhalten.
Bei den Olympischen Spielen in Paris war „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zu lesen, die Ziele der Französischen Revolution bei der Aufhebung der Stände 1789. Heute kämpfen wir nicht nur für die Freiheit, sondern für das Überleben der kommenden Generationen, also der gesamten Menschheit. Das schließt Freiheit ein, aber auch Würde, körperliche Unversehrtheit, alles Grundrechte, wie das auf Leben.
© CC BY-SA 4.0, Chabe01t • Olympische Spiele 2024 in Paris: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Überleben?
Umso wichtiger sind die Weichenstellungen. Das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung hat festgestellt, dass wir in diesem Jahrzehnt verhindern müssen, dass die globalen Temperaturen über 2° gegenüber der vorindustriellen Zeit ansteigen, und dass wir rasch eine Absenkung brauchen. Sonst wird es unbeherrschbar. Beim Versuch der Ampelregierung, wirksame Maßnahmen einzuführen, kam es zu Gegenreaktionen der rechten Parteien und Medien: z.B. der “Heizhammer”-Kampagne oder der Forderung der Rücknahme einer ansteigenden Dieselbesteuerung in der Landwirtschaft. Minderungen von Fossilsubventionen wie Abbau des Dienstwagenprivilegs oder der Pendlerpauschale wurden ebenso wie wirksame Steuerungsmaßnahmen wie das Klimageld boykottiert Stattdessen wird die “Schuldenbremse” als Argument gegen Investitionen und Umsteuerungsmaßnahmen im Klimaschutz benutzt. Die Frage an meine Kinder, ob sie Geldschulden oder eine überhitzte Erde vorziehen, ist eine rhetorische.
Das Klima-Urteil des BVerfG vom März 2021 sagt, mit den natürlichen Lebensgrundlagen müsse laut Artikel 20a des Grundgesetzes sorgsam umgegangen werden, sie müssten der Nachwelt in einem Zustand hinterlassen werden, „dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten“. Es dürfe nicht dazu kommen, dass einer Generation das Recht zugestanden werde, „unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO₂-Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde“. Der Gesetzgeber hätte deshalb Vorkehrungen treffen müssen, um diese hohen Lasten abzumildern.
Das BVerfG ging nicht darauf ein, dass durch die Kipppunkte das Überleben kommender Generationen und damit der Menschheit an sich bedroht ist, und dass bereits jetzt viele Menschen in Deutschland und weltweit in ihren Grundrechten verletzt sind. Die Richter hatten noch nicht verstanden oder dargestellt, dass nach Ansicht führender Wissenschaftler:innen kommende Generationen auch bei größter Reduktion ihr eigenes Leben nicht mehr werden retten können.
Aber Menschen können lernen. Deswegen hoffe ich erneut auf ein Urteil, das unsere Regierungen tatsächlich zu ambitionierten Klimaschutzzielen zwingt, und zu Maßnahmen, die die Ziele schnell erreichen.Ich hoffe auf zunehmendes öffentliches Engagement vieler Menschen, damit unsere Politiker:innen auf den Druck hin andere Gesetze schreiben. So dass Flüge deutlich teurer als die Bahnfahrt werden, fossilfreies Heizen billiger ist, vegetarische Ernährung gefördert wird, und so weiter. Strukturen für alle, statt Ermahnungen an die Einzelnen.
Nachdem ich selbst 2021 Klimakläger war, tritt nun meine Tochter für den SFV als Klägerin auf. Sie ist jung, Mutter mehrerer Kinder, Ärztin und seit Jahren klima-engagiert. Das macht mich stolz.
Thomas Bernhard
geb. 1958, Medizinstudium in Aachen. Ab 1992 als Internist in einem Krankenhaus in Tansania tätig, seit 1996 niedergelassener Arzt für Allgemein-, Umwelt- und Betriebsmedizin in Koblenz. Seit 1997 Mitglied des SFV und heute im Vorstand. In Koblenz ehrenamtlich engagiert in Umweltanliegen, Schwerpunkt Klimafolgen, Energie und Bezug zu Ländern des Südens.