Solare Wasserstoffwirtschaft
Chancen, Nutzen, Problemfelder
Eine kritische Analyse von Dr. Hermann Scheer23.10.2001
Für viele, die sich erstmals neuer- und guterdings mit der Solarenergie
beschäftigen, läuft deren Perspektive auf die "Solare
Wasserstoffwirtschaft" hinaus. Tatsächlich wird aber der solare
Wasserstoff nur ein Element der anzustrebenden Energieversorgung aus
Erneuerbaren Energien sein, und hierbei nicht einmal das größte und
wichtigste ihrer verschiedenen und vielfältigen Elemente. Auch wenn man
die Zukunft nicht im einzelnen prognostizieren kann, so läßt sich über
sie zumindest eines sagen: auch beim Ergreifen der solaren Energieoption
wird nicht ein umständlicher und kostspieliger Weg eingeschlagen werden,
wenn es auch einen einfacheren und kostengünstigerem gibt, um das Ziel
einer dauerhaften und emissionsfreien Energieversorgung zu erreichen.
Die solare Wasserstoffoption ist per se relativ umständlich und kostspielig, weil es sich dabei um einen Tertiärenergieträger handelt: zunächst einmal muß die Primärenergie der Sonnenstrahlung oder des Windes in Strom umgewandelt werden. Mit dem Sekundärenergieträger Strom muß dann Wasserstoff hergestellt werden durch die elektrolytische Trennung von Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff. Der Tertiärenergieträger Wasserstoff muß anschließend, was die Umstände nochmals kompliziert, für ihren massenhaften Einsatz etwa in Brennstoffzellenautos transportfähig gemacht werden, d.h. er muß auf 253 Grad minus gekühlt werden, damit er sich verflüssigt, sein Volumen verkleinert und so kostengünstig und gefahrlos transportiert und verteilt werden kann. Damit macht die Primärenergie der Sonne oder des Windes sogar eine dritte Umwandlung durch, bevor der Wasserstoff am Einsatzort ist - so daß es sich strenggenommen sogar um einen Quartärenergieträger handelt. Mit jedem Umwandlungsschritt und dem dazwischen liegenden Transportaufkommen steigen die Kosten der Energiebereitstellung.
Zwar bin ich der Auffassung, daß wir uns das Ziel einer umweltschonenden Energieversorgung alles dafür notwendige kosten lassen müssen. Wenn wir dasselbe Ziel aber mit geringeren Kosten und umstandsloser erreichen können, kommt es schneller zur Breitenwirkung, ist es produktiver und sozialer. Dies bedeutet: jede solare Energie, die ohne Umwandlung direkt nutzbar ist, hat Vorrang vor der Nutzung des solaren Wasserstoffs.
Die Nutzung der Solarenergie in Häusern, die insgesamt als Solarkollektor konzipiert sind und diese beheizt, bedarf einer intelligenten Bauweise und ansonsten keiner Umwandlung. Werden ergänzend dazu gesonderte Solarkollektoren eingesetzt, so haben wir es - eher im kostengünstigen low-tech-Bereich - mit nur einer Umwandlung zu tun. Für das Beheizen von Gebäuden, immerhin der größte Brocken des gesellschaftlichen Energieverbrauchs, bedarf es also der solaren Wasserstoffoption nicht.
Wird die Primärenergie der Sonne oder des Windes dagegen in Strom umgewandelt, so wird selbstverständlich dessen direkter Verbrauch vorgezogen werden, wo immer das möglich ist. Die Nutzung dieses Stroms für die Wasserstofferzeugung wird nur dann Platz greifen, wenn Stromüberschuß produziert wird, für den keine unmittelbare Stromnachfrage gegeben ist, oder wenn für völlig autonome dezentrale Strombereitstellungssysteme ein dezentraler Speicherbedarf für Strom besteht. Wasserstoff wäre dann also eine dezentrale Stromspeichermöglichkeit mit dem Ziel erneuter Stromerzeugung daraus. Da Wasserstoff aber nicht die einzige Möglichkeit zur dezentralen Stromspeicherung ist (im Kapitel "Strom ohne Netzverbund" meines Buches "Solare Weltwirtschaft" habe ich mehrere andere, sogar naheliegendere Ansätze dafür aufgezeigt), bleibt Wasserstoff eher eine Stromspeichermöglichkeit unter mehreren. Jedenfalls entsteht über der Stromversorgung ebenfalls kein Grund für den Aufbau einer generellen solaren Wasserstoffwirtschaft.
Damit wären wir beim dritten großen Fall der Energienachfrage: dem Bedarf an Treibstoffen und an Hochtemperaturenergie für einige Industrien aus Erneuerbaren Energien und damit beim diesbezüglichen Ersatz für Erdöl und Erdgas. Darauf zielt auch die gängige Hauptbegründung für eine solare Wasserstoffwirtschaft, nämlich für das Betreiben von Brennstoffzellen in Häusern und Automobilen. In Häusern stünde dies - wie schon erwähnt - in Konkurrenz zur direkten Nutzung der Solarwärme und der Eigenstromerzeugung mit Fotovoltaik und Stirlingmotor, die - mit Ausnahme der Stirlingmotoren - schon jetzt marktnäher sind und in jedem Fall billiger sein werden. In Brennstoffzellen für Automobile ist überdies Wasserstoff keine Bedingung, ohne die Brennstoffzellen nicht arbeiten könnten. Ebenso gut können Brennstoffzellen mit Erneuerbaren Energien wie reformiertem Biogas, Bio-Ethanol oder Bio-Methanol betrieben werden. Alle diese Varianten haben gegenüber Wasserstoff den Vorteil, daß es sich bei Biogas um einen direkt einsetzbaren Primärenergieträger und bei Bio-Ethanol und Bio-Methanol um Sekundärenergieträger aus Biomasse handelt, also zu deren Bereitstellung jeweils nur ein Umwandlungsschritt erforderlich wäre und nicht zwei bzw. drei wie bei Wasserstoff.
Deshalb ist selbst für den Treibstoffbedarf nicht anzunehmen, daß sich dessen Befriedigung eines Tages überwiegend auf solaren Wasserstoff orientieren wird - abgesehen davon, daß es auch andere technische Optionen für die Automobile gibt (etwas das Druckluftauto, bei dem die getankte Druckluft eine einfache Form der Stromspeicherung darstellt, anstelle des Elektroautos, in dem die Brennstoffzelle den Strom synchron zum laufenden Elektromotor erzeugt). Mehr noch: Biogas, Bio-Ethanol, Bio-Methanol und auch (etwas komplizierter) Wasserstoff können auch in Verbrennungsmotoren eingesetzt werden, bedürfen also nicht zwingend der Brennstoffzelle. Aus alldem ergibt sich: sowohl die gegenwärtige Fixierung auf die Brennstoffzelle (als vermittle diese erst den eigentlichen Sprung in eine moderne Energieversorgung aus Erneuerbaren Energien) wie auch die auf den Wasserstoff (als sei dieser in jedem Fall dafür tragend und unverzichtbar) offenbart in erster Linie einen nur ausschnitthaften und einseitigen Kenntnisstand über Erneuerbare Energien und deren vielfältige technische Optionen. Die Brennstoffzelle wird wahrscheinlich ihr Hauptanwendungsgebiet in Mikroenergiesystemen haben - die dadurch aus eigener fotovoltaischer Stromerzeugung am Gerät dessen dauerhaften Betrieb ermöglichen, wobei mittels Mini-Elektrolyse Wasserstoff und aus diesem wieder Strom erzeugt werden kann, damit Kabelverbund unnötig macht und auf einen Netzverbund verzichtet werden kann.
Wasserstoff wird kaum ein eigens hergestellter und über weite Strecken transportierter Energieträger werden - neben den genannten Gründen auch deshalb, weil es in den meisten Fällen einfacher sein wird, den Strom zu transportieren, um an Ort und Stelle des Verbrauchs Wasserstoff zu erzeugen, statt den Wasserstoff zu transportieren. Aber selbst in diesem Fall ist der aus dezentralen Solar- und Windkraftanlagen gewonnene Wasserstoff in Deutschland und Europa wohl wirtschaftlicher als einer aus solaren Großkraftwerken in der Sahara. Zwar ist dort die Energieausbeute wegen intensiverer Sonnenstrahlung höher, aber der größte Kostenfaktor in einer weiträumigeren Energieversorgungsstruktur ist nicht die Stromerzeugung, sondern der Energietransport. Indem dessen Kosten durch dezentrale Anlagen hierzulande vermieden werden, werden diese produktiver. Der ökonomische Sinn der Energiespeicherung - die zu den Hauptgründen der Wasserstoffoption zählt - ist doch gerade die damit verbundene Möglichkeit autonomer dezentraler Energieversorgungssysteme, also nicht der Aufbau neuer Superstrukturen.
Der blinde Fleck der Energieökonomie ist, daß diese sich auf isolierte Vergleiche von Einzeltechniken kapriziert, aber nicht auf den Vergleich von Energiesystemen. Eine energiesystematische Betrachtung der solaren Perspektive führt zum Ergebnis, wie ich es hier grob skizziert habe. Die anzustrebende Perspektive wird eine solare Wirtschaft - bezogen auf alle Erneuerbaren Energien - sein mit einigen Wasserstoffkomponenten, aber keine durchgängige solare Wasserstoffwirtschaft.