Datum: 20.03.2004

"Nachts scheint keine Sonne"
oder
Das Märchen von der Speicherproblematik


von Manfred Dürr und Jürgen Grahl

Wer sich für eine Vollversorgung ausschließlich mit regenerativen Energien - Sonne, Wind, Wasser, Bioenergie - ausspricht, sieht sich in beinahe jeder Diskussion mit Gegnern oder Skeptikern mit einem echten Totschlagargument konfrontiert: "Nachts scheint keine Sonne": Sowohl Sonne als auch Wind könnten niemals als alleinige Basis unserer Energieversorgung geeignet sein, da sie nur unregelmäßig und mit zu großen tages- und jahreszeitlichen Schwankungen anfielen und es keine praktikablen Möglichkeiten der Speicherung gebe. Mit diesen Einwänden wollen wir uns im folgenden etwas näher auseinandersetzen.

Zunächst ist ein häufiges Missverständnis aufzuklären: Ein zukünftiges regeneratives Energiesystem wird sich niemals allein auf Solar- oder Windenergie stützen; es wird seine Stärke vielmehr aus einem Energiemix der verschiedenen erneuerbaren Energien gewinnen. Auch heute ist ja eine Energieversorgung mit ausschließlich Atomkraft oder ausschließlich Kohle weder möglich noch beabsichtigt.

Die Hauptsäulen des künftigen regenerativen Energiemixes werden sein: Sonne (Photovoltaik und Solarthermie), Windenergie, Wasserkraft, Bioenergie sowie evtl. solarer Wasserstoff (Wasserstoff, der durch Elektrolyse von Wasser mittels Solar- oder Windstrom gewonnen wird) und Geothermie (Erdwärme). Hierbei steht Bioenergie in vielfältigsten Varianten zur Verfügung: als feste Biomasse (Holz, Stroh etc.), flüssige Bio-Öle (Rapsöl, Sonnenblumenöl, Palmöl und viele andere Pflanzenöle aus allen Klimaregionen) sowie Bio-Gas (aus Gülle, organischen Reststoffen, Grünplanzen etc.); jeder fossile Energieträger hat also ein Bioenergie-Gegenstück: Kohle kann durch feste Biomasse, Erdöl durch Pflanzenöl und Erdgas durch Biogas ersetzt werden. Bioenergie (und mit Abstrichen auch solarer Wasserstoff) ist ebensogut speicherbar wie heute Öl oder Gas und kann daher sonnen- und windfreie Zeiten überbrücken. Nicht nur wegen ihrer Speicherfunktion werden Bioenergie und solarer Wasserstoff eine bedeutende, heute oft noch unterschätzte Rolle in einer künftigen regenerativen Energiewirtschaft spielen: Sie werden auch die Basis für alle mobilen Energieanwendungen bilden. Denn womit sonst sollten wir die Motoren unserer Autos, Flugzeuge und Schiffe betreiben, wenn irgendwann einmal, in vielleicht vierzig oder fünfzig Jahren, das letzte Erdöl verbraucht ist? Unter zukünftig regenerativ betriebenen Fahrzeugen sollte man sich daher nicht so sehr Solarmobile oder gar bloße Elektroautos vorstellen, sondern Wagen mit im wesentlichen konventionellen Verbrennungsmotoren, die anstelle von fossilem Benzin biogene Treibstoffe nutzen. Hierbei sind naturbelassene Pflanzenöle dem Rapsmethylesther ("Biodiesel") aufgrund der einfacheren Handhabbarkeit vorzuziehen.

Eine weitere - momentan allerdings zu einseitig verfolgte - Option ist die Brennstoffzellentechnologie, die aus der kalten Verbrennung von Wasserstoff Energie gewinnt und als "Abgas" blankes Wasser hinterlässt. Die mit dem Einsatz von Wasserstoff verbundenen Risiken sind eher geringer als bei den heute verwendeten Energieträgern Öl / Benzin oder Gas, da Wasserstoff leichter als Luft ist, sich im Falle des Entweichens aus Tanks oder Leitungen also in aller Regel verflüchtigen wird. Dennoch ist die Wasserstofftechnologie aufgrund der auftretenden Umwandlungsverluste dem Einsatz des direkteren Sonnenspeichers Bioenergie unterlegen. Ferner ist zu bedenken, dass der Einsatz von Wasserstoff nur insoweit sinnvoll ist, wie dieser aus regenerativem statt aus fossil-atomarem Strom gewonnen wird - ein Aspekt, der in der derzeitigen Diskussion um eine künftige "Wasserstoffwirtschaft" allzu leicht übersehen wird.

In gewissem Rahmen ist auch Wasserkraft speicherbar, nämlich durch die Nutzung aufgestauter Wassermassen in Speicherkraftwerken. Je nach Kapazität des Staubeckens und den aus Naturschutzgründen notwendigen Mindestwassermengen kann die Stromerzeugung bedarfsgerecht gesteuert werden. Eine spezielle Form sind Pumpspeicherkraftwerke: sie pumpen mit momentan nicht benötigtem Strom Wasser bergauf, von wo es bei (Strom-)Bedarf wieder ins Tal abfließen, Turbinen antreiben und Strom erzeugen kann; damit können sie eine zusätzliche Pufferfunktion übernehmen.

Darüberhinaus ergänzen sich die verschiedenen erneuerbaren Energien gegenseitig: Wenn z.B. keine Sonne scheint, weht häufig der Wind - und umgekehrt. Zeiten ohne Wind und Sonne sind relativ selten, insbesondere wenn man über eine größere Fläche wie die der Bundesrepublik oder gar von Europa hinweg mittelt.

Aber auch das Stromnetz selbst kann in gewissem Sinne die Funktion eines Speichers erfüllen. Hierbei ist zunächst klarzustellen, dass es bei einem solaren Energiesystem - entgegen weitverbreiteter Vorstellungen - nicht unbedingt darum geht, dass jeder einzelne Haushalt mittels eigener Solarstromanlage auf dem Dach und einer langen Aneinanderreihung von Batterien im Keller Autarkie, Unabhängigkeit vom Netz erreicht; herkömmliche Batterien sind im Gegenteil für die Speicherung im großen Maßstab aufgrund ihrer niedrigen Energiedichte eher ungeeignet. (Nicht unerwähnt bleiben sollen freilich die vielfältigen Möglichkeiten, einzelne Elektrogeräte wie etwa Notebooks oder Handys durch integrierte Photovoltaikzellen und verbesserte Energieeffizienz netzunabhängig betreiben zu können, wie wir es heute bereits von Taschenrechnern oder Solaruhren kennen.) Die angestrebte Dezentralisierung der Stromerzeugung bedeutet also nicht primär den Verzicht auf das Stromnetz. Entbehrlich ist allerdings die zentralisierte Erzeugung in gigantischen fossilen oder atomaren Großkraftwerken, während das Netz zum Ausgleich zwischen Stromangebot und Stromnachfrage nach wie vor benötigt werden wird. Dieses Ausgleichsproblem ist nichts prinzipiell Neues: Bereits heute muss das jeweilige Stromangebot zu jedem einzelnen Zeitpunkt an die teilweise erheblichen Nachfrageschwankungen angepasst werden.

Diese Aufgabe wird sich zukünftig, wenn die Unstetigkeit und Unvorhersagbarkeit des Stromangebots aus Sonne und Wind mitberücksichtigt werden muss, verändern. Schwieriger wird sie darum nicht. Genauso wie beim Stromverbrauch ist die großräumige Mittelung über vielfältige kleine, dezentrale Stromerzeuger im Grundsatz leichter in den Griff zu bekommen als über wenige große Anlagen, die bei Störungen großräumige Auswirkungen und wenige Alternativen haben. In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass bereits heute auch das Stromangebot plötzlichen unvorhergesehenen Schwankungen unterliegen kann, wenn beispielsweise aufgrund eines Störfalls ein großer Kraftwerksblock eines Kohle- oder Kernkraftwerks vom Netz genommen werden muss. Für diese Fälle müssen schon heute ausreichende Reservekapazitäten bereitgehalten werden - und gegebenenfalls binnen weniger Sekunden oder Minuten aktiviert werden. Diese Rolle können zukünftig wiederum Kraftwerke auf Basis von Bioenergie und solarem Wasserstoff übernehmen. Zudem reduziert sich die Notwendigkeit zur Bereithaltung von Reservekapazitäten bei dezentraler Stromerzeugung auf regenerativer Basis dadurch, dass sich der plötzliche Ausfall kleiner Stromerzeugungseinheiten weit weniger gravierend auswirkt als der Ausfall eines ganzen Kraftwerksblocks heutiger Größe.

Das Zauberwort für die Verwendungsmöglichkeit des Netzes als Speicher lautet intelligentes Lastmanagement: Zukünftig wird der Ausgleich zwischen Stromangebot und Strombedarf nicht nur durch Steuerung der Angebotsseite erfolgen, sondern auch durch Steuerung der Nachfrage - in gewissen Grenzen natürlich: Keinesfalls geht es darum, dass der Fernseher etwa nur noch bei Sonnenschein oder Windstärke 7 eingeschaltet werden darf. Es gibt jedoch genügend Energiedienstleistungen, die keiner permanenten, sondern einer eher gelegentlichen Stromzufuhr bedürfen: So können Kühlschränke und Gefriertruhen beispielsweise problemlos eine bis mehrere Stunden ohne Stromzufuhr und damit ohne Kühlung überbrücken, und diese Zeitspanne kann noch wesentlich erhöht werden: zum einen durch eine bessere Dämmung - was den zusätzlichen Vorteil weiterer Energieeinsparung mit sich brächte -, zum anderen durch "Kühlakkus", d.h. Wasserbehälter, die Kühlenergie in Form von gefrorenem Eis zwischenspeichern und dann, wenn die Stromzufuhr fehlt, die gewünschte Temperatur aufrechterhalten. Ebenso könnten die Thermostate in Kühlgeräten zeitabhängig arbeiten, die Temperatur in Zeiten von Stromknappheit geringfügig wärmer, in Zeiten von Stromüberschuß geringfügig kälter einstellen. Es erscheint nicht undenkbar, dass auf diese Weise künftig Kühl- und ähnliche Elektrogeräte automatisch so gesteuert werden, dass ihr Strombedarf mit Zeiten hohen Stromangebots zusammenfällt.

Gänzlich neu ist das Prinzip des intelligenten Lastmanagements nicht: Es wird in Elektro-Nachtspeicherheizungen millionenfach angewandt. Die Regelung erfolgt hierbei über sog. Rundsteuergeräte, welche mithilfe von auf das Stromnetz aufmodulierten Signalen den Ladevorgang aktivieren bzw. deaktivieren. Auf diese Weise versuchen die Stromversorger, zwecks gleichmäßigerer Auslastung ihrer Kraftwerke den Strombedarf nach Möglichkeit in die Nacht zu verlagern, weswegen sie für Nachtstrom wesentlich günstigere Tarife anbieten. Ähnliches gilt für die Sondertarife für Wärmepumpenheizungen; hier fungieren ein dicker Estrich unter dem Fußbodenbelag und ein großer Pufferspeicher für Warmwasser als Wärmespeicher. (In diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben soll freilich, dass der Einsatz von Nachtspeicherheizungen geradezu einer ökologischen Todsünde gleichkommt, da die Ver(sch)wendung der hochwertigen Energieform Strom zur Gewinnung von energetisch niederwertiger Heizwärme thermodynamisch im höchsten Maße unsinnig ist.) Und in Zeiten des Internet ist auch die Vorstellung, dass in einigen Jahren möglicherweise sämtliche Haushalte mitsamt der zugehörigen Elektrogeräte miteinander vernetzt und insofern der Steuerung ihres Energiebedarfs zugänglich sein werden, längst keine Utopie mehr.

Im übrigen: Es gibt zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine Erdhalbkugel, auf der gerade Tag bzw. Sommer herrscht. Dort solar erzeugter Strom ließe sich theoretisch über interkontinentale, weltumspannende Stromleitungen in die jeweiligen Nacht- bzw. Winterregionen der Erde leiten - auch wenn das mit beträchtlichen Leitungsverlusten verbunden wäre. Angesichts der vielfältigen anderweitigen Möglichkeiten der Speicherung wird dies aber gar nicht nötig sein; die Nennung dieses Beispiels soll nur die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Optionen illustrieren.

Speicherungsmöglichkeiten gibt es auch für andere Energieformen, nicht nur für Strom: Durch großangelegte Erdwärmespeicher läßt sich z.B. ein im Sommer in solarthermischen Anlagen (Sonnenkollektoren) erwirtschafteter Wärmeüberschuss in den Winter hinüberretten, um zur Versorgung mit Heizung und Warmwasser in der kalten Jahreszeit beizutragen.

Momentan und wohl noch auf Jahre hinaus ist die Frage nach der Speicherproblematik ohnehin nur in einem viel erfreulicheren Zusammenhang akut: Es geht angesichts der derzeit noch bestehenden konventionellen Kraftwerkskapazitäten nicht um einen aus der Unstetigkeit von Sonne und Wind resultierenden Mangel (Stichwort "Nachts scheint keine Sonne"), sondern vielmehr um regionale Überschüsse, etwa an Windstrom, die mancherorts (in Schleswig-Holstein und Brandenburg) aufgrund fehlender Speichermöglichkeiten schon heute zu Netzproblemen führen. Dies stellt allerdings keine Bedrohung der Versorgungssicherheit dar, sondern ist letztlich nur eine Frage der Effizienz: Es wäre ja bedauerlich, wenn man den im Überschuss anfallenden Windstrom mangels geeigneter Speicher verschenken müsste....

Hält man sich die vielfältigen oben angesprochenen, keinesfalls utopischen, sondern sehr realistischen Möglichkeiten der Speicherung vor Augen, so wird klar, wie armselig der Einwand "Nachts scheint keine Sonne" tatsächlich ist: Wer das angebliche Speicherproblem als ernsthaftes Hindernis für ein ausschließlich auf regenerativen Quellen basierendes Energiesystem bezeichnet, stellt damit nur eines unter Beweis: seinen eigenen Mangel an naturwissenschaftlich-technischem Sachverstand und an Bereitschaft, die bereits heute vorhandenen Möglichkeiten zielstrebig für eine solare Energieversorgung einzusetzen.

 


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