Datum: 25.01.05

Mehr Arbeitsplätze ohne Wirtschaftswachstum möglich

Änderung der Rahmenbedingungen setzt Okuns "Gesetz" außer Kraft

von Wolf von Fabeck

Bei allen Differenzen in der Wirtschaftspolitik scheinen sich die Akteure darin einig zu sein, dass zur Schaffung neuer Arbeitsplätze ein Wirtschaftswachstum von mehr als 2 Prozent jährlich erforderlich sei. Diese Forderung wird aus einer schematischen Anwendung von "Okuns Gesetz hergeleitet (Arthur M. Okun, USA 1928-80). Okun stellte mit Hilfe makroökonomischer empirischer Untersuchungen in den USA zwischen 1945 und 1960 fest, dass bei Nullwachstum die Zahl der Arbeitslosen wächst, dass erst bei einer jährlichen Steigerung des Bruttoinlandprodukts um etwa zwei bis drei Prozent die Zahl der Arbeitslosen wenigstens konstant (!) bleibt und dass für jeden Prozentpunkt ZUSÄTZLICHEN Wachstums die Arbeitslosenquote um knapp einen halben Prozentpunkt sinkt.

Die Forderung nach einem Wirtschaftswachstum über das angeblich "natürliche" Wachstum (die sog. "Beschäftigungsschwelle") von zwei bis drei Prozent hinaus wird von fast allen Wirtschaftswissenschaftlern erhoben und von der Politik und Arbeitgeberverbänden wie auch Gewerkschaften unkritisch übernommen.

Nur sehr vereinzelt regt sich Widerspruch gegen die Forderung nach fortwährendem Wirtschaftswachstum. Der Widerspruch gründet sich zumeist auf die nüchterne Überlegung, dass ständiges Wachstum an Grenzen stoßen wird - nicht nur auf Seiten der Erzeuger, sondern auch auf Seiten der Verbraucher - und dass es in einer Erschöpfung der Ressourcen und einer Überlastung der Biosphäre mit Abfällen und Klimagasen enden wird. Abstrakt formuliert: In einem endlichen System ist kein unendliches Wachstum möglich.

Permanentes Wachstum ist also ein Lösungsvorschlag, der sich nach den Prinzipien der Nachhaltigkeit von selbst verbietet, doch es werden bislang keine Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen. Selbst diejenigen, die die prinzipiellen Einwände gegen eine Wachstums"lösung" durchaus anerkennen, sehen in ihrer Ratlosigkeit angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit keine Alternative. Getrieben von einer immer schwerer erfüllbaren Hoffnung auf weiteres Wachstum ziehen die Industrienationen wie Lemminge den bitteren Weg in den absehbaren Wachstumskollaps.

Doch mit der scheinbar unausweichlichen Wahl zwischen Untergang im Wachstumskollaps oder steigender Arbeitslosigkeit und Verelendung der Massen müssen wir uns keineswegs abfinden.

Zunächst einmal gilt es, die Wachstumsideologie zu entzaubern. Sie beruft sich im wesentlichen auf empirische Beobachtungen vergangener Entwicklungen wie etwa das o.g. Okunsche "Gesetz. Solche empirischen Untersuchungen der (beschreibenden) Volkswirtschaftslehre befassen sich nicht mit den zugrunde liegenden Ursache-Wirkungsbeziehungen, sondern liefern eine auf statistischer Grundlage gewonnene Beschreibung der Verhältnisse, die in eine mathematische Formel übernommen werden. Die Anwendung solcher "Gesetze" auf die Zukunft setzt natürlich voraus, dass sich die entscheidenden Rahmenbedingungen nicht ändern.

Wer sich mit dem Wachstumszwang nicht abfinden will, muss deshalb herausfinden, welches denn die entscheidenden Rahmenbedingungen dafür gewesen sind, dass die Entwicklung in der Vergangenheit gerade so und nicht anders abgelaufen ist. Hier wird es dann doch unerlässlich, sich mit den Ursache-Wirkungsbeziehungen zu befassen: Wie kommt es eigentlich zu der oben erwähnten Beschäftigungsschwelle? Warum werden zwei bis drei Prozent Wachstum Jahr für Jahr nur dafür benötigt, die Arbeitslosigkeit konstant zu halten?

Deshalb noch einmal ein Blick in die Vergangenheit, diesmal jedoch aus anderer Sichtweise:

Seit Zehntausenden von Jahren geht das Streben der Menschen dahin, sich jede Arbeit durch technische oder geistige Hilfsmittel zu erleichtern. Vom Faustkeil zum Schlagbohrer, vom Zusammenzählen zur Integration, von der Holzhammermethode zur Anästhesie, vom Frontalunterricht zur Gruppenselbstarbeit: Ständig nehmen die Möglichkeiten zu, mehr oder hochwertigere Produkte oder Dienstleistungen zu produzieren. Die (Arbeits-)Produktivität der Menschen nimmt erfahrungsgemäß aufgrund des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts von Jahr zu Jahr im Durchschnitt um etwa 2% zu. Wenn die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen entsprechend wächst, und wenn die Zahl der Beschäftigten sowie ihre Jahresarbeitszeit gleich bleibt, könnte die Wirtschaftsleistung der Industriegesellschaften ebenfalls um diesen Betrag zunehmen. Bei lediglich gleichbleibender Nachfrage hingegen wird von Jahr zu Jahr weniger menschliche Arbeit benötigt: Die Zahl der Arbeitsstunden bzw. der Arbeitsplätze nimmt entsprechend ab.

Deshalb fordern die Wirtschaftswissenschaftler einen Ausgleich: Die Wirtschaftsleistung muss mindestens so schnell wachsen wie die Arbeitsproduktivität - und noch schneller, wenn die Arbeitslosigkeit sinken soll.

Aber ist der immer weitergehende Anstieg der Arbeitsproduktivität wirklich zwangsläufig? Ist er überhaupt wünschenswert?

Um diese Fragen zu beantworten, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass der jährliche Produktivitätszuwachs von 2 Prozent ein Durchschnittswert ist, der sich aus völlig unterschiedlichen Einzelwerten zusammensetzt. Auf technischem Gebiet z.B. nimmt die Produktivität der Arbeiter und Angestellten sehr viel stärker zu als zwei oder drei Prozent jährlich, auf wissenschaftlichem oder sozialem Gebiet hingegen nimmt sie sogar ab bzw. könnte gerne abnehmen - für letzteres einige Beispiele:

  • Der Personalaufwand für bahnbrechende Forschungsergebnisse steigt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Die Zeiten, in denen Albert Einstein nach einem Geistesblitz als Einzelkämpfer die Relativitätstheorie entwickelte, sind vorbei. Inzwischen haben nur noch ganze Teams von Wissenschaftlern eine realistische Chance, etwas Neues zu entdecken; immer häufiger wird der Nobelpreis aufgeteilt. Jede neue Erkenntnis muss aufgesetzt werden auf ein zunehmend komplexeres zugrunde liegendes Wissensgebäude, dessen obere Stockwerke nur noch von Wenigen und mit immer größerem Aufwand überhaupt erreicht werden. Die gesteckten Ziele sind immer schwerer zu verstehen, geschweige denn zu erreichen. Man braucht deshalb MEHR Wissenschaftler und wissenschaftliche Mitarbeiter für jede neue Erkenntnis. Die Forschungseinrichtungen und Universitäten beklagen, dass ihnen die notwendigen Mittel nicht zur Verfügung gestellt werden.
  • Oder betrachten wir die Behandlung von Gemütskranken. Früher gab es häufig nur noch die Möglichkeit der Isolierung und medikamentösen Ruhigstellung. Heute könnte man bei den gleichen Krankheiten - allerdings mit erheblich höherem personellen Aufwand - tatsächliche Besserung erreichen. Dass dies aus Personalmangel bisweilen unterlassen wird, ist ein Skandal. Eigentlich braucht man MEHR Betreuer. Diese Tendenz findet sich durchgängig im gesamten medizinischen und sozialen Bereich.
  • Ähnlich verhält es sich mit der Wissensvermittlung: Im Jahr 1948, also in der Zeit des Wiederaufbaus, unterrichtete ein Lehrer mit gutem Erfolg 50 Schüler, Anfang der sechziger Jahre mögen es durchschnittlich 40 Schüler gewesen sein und heute fordern Pädagogen, dass ein Lehrer maximal 15 Kinder unterrichten soll. In Finnland unterrichtet ein Lehrer sogar nur noch 10 Kinder (möglicherweise gehört Finnland deshalb zu den PISA-Siegern). Die Gründe für diese Entwicklung im Lehrer-Schüler-Verhältnis können wir offen lassen. Tatsache ist jedenfalls, dass man heute für gute Unterrichtsergebnisse MEHR Lehrer braucht als früher, und es ist ein schlimmes Versäumnis des Staates, dass er nicht die notwendigen Steuern erhebt, um weitere Lehrerstellen schaffen zu können; WORAUF er diese Steuer erheben soll, darauf kommen wir später.

Diese Beispiele zeigen: Im wissenschaftlichen, sozialen, medizinischen Bereich und in der Schulbildung werden mit fortschreitender Zeit nicht weniger Menschen eingesetzt, sondern mehr. Dies könnte und müsste sogar noch deutlich gesteigert werden, denn die genannten Bereiche sind zur Zeit personell unterversorgt. In gesellschaftlicher Hinsicht bereitet diese Unterversorgung erhebliche Probleme. Hier eröffnet sich die Aussicht auf eine Lösung des Arbeitslosenproblems. In der Fachsprache der Wirtschaftswissenschaften würde das etwas verächtlich klingen: "Minderung der Arbeitsproduktivität im sozialen Bereich". Offenbar sind die Wirtschaftswissenschaften nicht in der Lage, die Verhältnisse aus sozialer Sicht angemessen und unvoreingenommen darzustellen.

Anders liegen die Verhältnisse beim technischen Fortschritt, z.B. in der Produktion, im Konsum und leider auch in der Waffentechnik, der sich mit immer geringerer Ausbildung und geringerer menschlicher Anstrengung nutzen lässt. Eine moderne Drehbank ist leichter zu bedienen als eine alte. Ein modernes Auto zu fahren, ist einfacher als einen Volkswagen des Baujahrs 1950, der beim Herunterschalten noch "Zwischengas" brauchte. Heute können auch zierliche Frauen mit Hilfe der hydraulischen Lenkunterstützung einen großen Reisebus lenken. Was früher wegen der erforderlichen Muskelkraft kaum möglich war, zusätzliche Hilfsenergie macht es heute möglich. So stoßen wir zwangsläufig auf die Rolle der Energie.

Aber nicht nur körperliche Arbeit wird durch Energieeinsatz erleichtert. Den eindrucksvollsten Beitrag für den Fortschritt im Bereich der Produktion bringt der zunehmende Einsatz von (billiger) Energie bei der Bereitstellung der Grundstoffe (z.B. Stahl, Aluminium, Kunbststoffgranulat, Zement usw). Energie stellt in den Hochöfen, den Zementwerken, in der chemischen Industrie eine scheinbar unerschöpfliche Menge billigster Grundstoffe zur Verfügung. Sie nimmt den Menschen die Arbeit ab, die schwindenden Bodenschätze aus immer schwieriger zu erschließenden Vorkommen heraufzuholen und sie in industriell verwendbare Grundstoffe umzuwandeln. Ohne den zunehmenden Energieeinsatz wäre die immer weitergehende Steigerung der menschlichen Produktivität im Produktionsbereich und der Boom der Konsumgüterindustrie undenkbar. Mit Hilfe der Automatisierung werden aus energieintensiv gewonnenen Grundstoffen durch immer weniger Personal immer mehr Produkte hergestellt.

Zur Erleichterung der automatisierten Produktion wird auch in zunehmendem Maße der Aufbau der Produkte verändert. Gehäuseteile werden z.B. nicht mehr verschraubt, sondern durch einfaches Zusammenpressen untrennbar miteinander verbunden. Eine Reparatur wird damit unmöglich gemacht. Dies wird von den Käufern in der Regel auch nicht beanstandet, weil der Kauf eines Neugerätes unglaublich billig ist verglichen mit den Preisen einer Reparatur. Die Schließung vieler Reparaturwerkstätten, in denen gut ausgebildete Handwerker beschäftigt waren, ist die logische Folge. Die geringen Grundstoffpreise verführen somit einerseits zur unverantwortlichen Materialverschwendung und andererseits zum Stellenabbau im Instandsetzungssektor.

Dem schnellen Wachstum im Konsumbereich (Handys, Computer, Digitalkameras), das wir noch immer beobachten, stehen keine Personaleinstellungen gegenüber, im Gegenteil, ständige Rationalisierung führt zu Entlassungen. Abstrahiert man den Vorgang, so kann man sagen: Arbeitskräfte werden durch Energieeinsatz substituiert. Der Anreiz für diese Substitution ist übermächtig. Während der Produktionsfaktor "Arbeit" extrem teuer ist, aber gerade im Konsumgüterbereich nur einen geringen Beitrag zur Wertschöpfung leisten kann (geringe Produktionsmächtigkeit), ist es bei dem Produktionsfaktor Energie genau umgekehrt. Die laufende Substitution von Arbeit durch Energie ist denn auch die Ursache dafür, dass selbst bei Nullwachstum - wenn also jedes Jahr wieder genauso viele Produkte und Dienstleistungen erzeugt werden wie im Vorjahr - dennoch Arbeitskräfte entlassen werden.

Kommen wir zurück zum Okunschen Gesetz. Seine Aussage, dass zur Erhaltung der Arbeitsplätze ein Wirtschaftswachstum von jährlich 2 Prozent erforderlich sei, trifft nur auf eine Volkswirtschaft zu, in der die Konsumgüterproduktion - mit ihrem (bei gleichbleibender Wertschöpfung) abnehmenden Personalbedarf - einen hohen Anteil am Bruttoinlandsprodukt hat. Die Verhältnisse würden sich grundlegend ändern, wenn der Anteil von Forschung, Wissenschaft, Ausbildung und Erziehung sowie sozialer Tätigkeit am Bruttoinlandsprodukt zunehmen würden, weil in diesen Bereichen der Personalbedarf (bei gleichbleibender Wertschöpfung) jährlich zunimmt.

Damit wäre die Gesellschaft vom Wachstumszwang befreit. Auch bei "Nullwachstum" würde die Arbeitslosigkeit nicht mehr zu- sondern von Jahr zu Jahr abnehmen.

Die hier angedeutete Entwicklung ist möglich und längst überfällig. Wenn die materiellen Grundbedürfnisse der Menschen weitgehend gestillt sind, besteht nicht mehr die soziale Notwendigkeit zu ihrer vordringlichen Befriedigung. Die gesellschaftliche Aufmerksamkeit darf sich dann mehr auf Wissensvermittlung und soziale Bedürfnisse richten.

Wenn es gelänge, durch eine Änderung der Rahmenbedingungen die Unternehmer (auch der Staat ist Unternehmer) dazu zu bringen, dass sie ihr Kapital mehr in den Wirtschaftszweigen Ausbildung und Erziehung, Forschung und Wissenschaft, im sozialen und medizinischen Bereich - generell also im Dienstleistungsbereich investieren, überall dort, wo Wachstum nur möglich ist, wenn mehr Personal eingesetzt wird, hätten wir unser Ziel erreicht. Im Gesamt-Durchschnitt bräuchte das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr zu steigen (Nullwachstum oder gelegentlich auch negatives Wachstum) und die Zahl der Beschäftigten könnte trotzdem zunehmen.

Doch wie erreicht man in einer freien Marktwirtschaft die gewünschte Umstrukturierung?

Der Antrieb für jede unternehmerische Entscheidungen ist die Optimierung des Gewinns. Wer mit einer Reparaturwerkstatt einen höheren Gewinn auf das eingesetzte Kapital erzielen kann als mit einer automatisierten Produktionsanlage, wird sich für die personalintensivere Reparaturwerkstatt entscheiden. Derzeit ist es genau umgekehrt.

Eine konsequente Umschichtung der Steuer- und Abgabenlast vom "Produktionsfaktor" Arbeit auf den "Produktionsfaktor" Energie wird die unter hohem Energieaufwand hergestellten Grundstoffe verteuern und dazu führen, dass die Unternehmertätigkeit im Bereich der reinen Konsumgüter-Produktion weniger Gewinne abwirft, in den Bereichen von Wissenschaft, Wissensvermittlung und sozialer Tätigkeit hingegen höhere Gewinne. Da Unternehmer die Maximierung ihres Gewinnes suchen, werden sie ihre Unternehmensbereiche verlagern. In Wissenschaft und Forschung sowie im sozialen Bereich, d.h. im Dienstleistungsbereich, wird die Produktivität abnehmen, bzw. der Personaleinsatz zunehmen und das Problem der Arbeitslosigkeit kann so gelöst werden.

Fassen wir zusammen:

  • Das Okunsche Gesetz beschreibt die makroökonomische Entwicklung von Wachstum und Zahl der Beschäftigten in der Vergangenheit. Die beunruhigende Schlussfolgerung, dass dieses "Gesetz" auch für zukünftige Entwicklungen gelten muss, ist nicht zwingend, denn die Politik kann die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen anders setzen, als sie zur Zeit der Herleitung des Gesetzes waren.
  • Die von Okun und anderen Wissenschaftlern genannten zwei Prozent "natürliches Wachstum" kommen zustande durch eine ständig ablaufende Substitution von Arbeit durch Energie - insbesondere in der Grundstoff- und Konsumgüterindustrie.
  • Eine energische Verbilligung der Lohnkosten und gleichzeitig eine ebenso energische Verteuerung von Energie durch Energiesteuern muss möglichst rasch den Anreiz für die ständig laufende Substitution von Arbeit durch Energie beenden. Dann wird sich eine Strukturänderung, ein anderes Größenverhältnis zwischen den Wirtschaftszweigen einstellen. Unternehmen mit abnehmenden Personalbedarf werden ersetzt werden durch Unternehmen mit zunehmenden Personalbedarf.

Neue Arbeitsplätze sind ohne Wachstumszwang möglich!