Datum: 10.03.2006
Das falsche Dogma
Marktfundamentalismus und Staatsverschlankungvon Reiner Kümmel
Reagans Vision von "Wirtschaftswachstum durch weniger Staat und niedrigere Steuern" gibt der einflussreiche "Club for Growth" auf seiner Homepage als Ziel seiner Wahlkampagnen in den USA an. Das Dogma "Weniger Staat und weniger Steuern" wird auch in Deutschland von namhaften Persönlichkeiten in Wirtschaft und Politik verkündet. Andererseits wachsen die Ansprüche an den Staat. Kaum eine Investition in Zukunftstechniken wird ohne Zuschüsse aus Steuermitteln getätigt, seien es Neuentwicklungen in der Energie-, Luft- und Raumfahrtindustrie oder die Ansiedlung neuer Chip- und Automobilfabriken in strukturschwachen Regionen. Ausbau und Reparatur des Straßennetzes, das von immer mehr und schwereren LKWs verstopft und abgenutzt wird, verschlingen Steuer-Milliarden, und nur wenige Flughäfen kommen ohne staatliche Subventionen aus. Terrorismus, Pandemien, globale Flüchtlingsströme und Folgen des Klimawandels weisen dem Staat Vorsorgeaufgaben zu, die privat nicht zu bewältigen sind.
Presse und Rundfunk führen uns das täglich vor Augen. Dennoch propagieren kluge Köpfe und mächtige Interessengruppen den Rückzug des Staates und wollen die Zukunft vorrangig der Privatinitiative überlassen. Warum?
Die Marktfundamentalisten, die der Spekulant, Milliardär und Philantrop George Soros benennt und bekämpft - er hatte mehrere Millionen Dollar gegen die Wiederwahl von George W. Bush investiert -, streben einen Rückfall in einen schrankenlosen Kapitalismus an, wie er im 19. Jahrhundert teilweise geherrscht hatte. Im 20. Jahrhundert wurde er durch das ökonomische Mischsystem abgelöst, in dem sowohl private als auch öffentliche Institutionen den Wirtschaftsablauf beeinflussen und bestimmen. Wohlstand für Alle und sozialer Friede waren seine Früchte seit 1945. Mit ihm hat der Westen den Kalten Krieg gewonnen. Dessen ungeachtet wird das Dogma von den Segnungen des unbeschränkten Wettbewerbs und Handels aller Güter und Dienstleistungen auf freien Märkten, aus denen der Staat sich weitestgehend heraushält, immer eindringlicher gepredigt.
Der missionarische Eifer wird dabei mit Hilfe eines mathematischen Wirtschaftsmodells, der allgemeinen Gleichgewichtstheorie der neoklassischen Ökonomie, gerechtfertigt, das in enger formaler Analogie zum Kern der Physik des 19. Jahrhunderts, der klassischen Mechanik, formuliert wurde. Seine Eleganz besticht und hat seinen Schöpfern mehrere Nobelpreise der Wirtschaftswissenschaft eingetragen. Unter bestimmten, stark idealisierenden Modellannahmen wie vollkommener Wettbewerb zwischen vollständig informierten ökonomischen Akteuren, die auf jede Veränderung des Marktes ohne zeitliche Verzögerung mit Mengen- und Preisanpassungen reagieren und dabei alle Produktionsfaktoren ohne irgendeine Einschränkung gegeneinander substituieren können, liefert die Mathematik ein sog. pareto-optimales Gleichgewicht, d.h. es kann kein Konsument besser gestellt werden, ohne die Lage eines anderen zu verschlechtern. Man mag dies als einen Zustand maximaler Wohlfahrt betrachten. Ferner wird in diesem Modell die Differenz zwischen gesamtwirtschaftlicher Wertschöpfung und den Kosten aller Produktionsfaktoren (d.h. der Unternehmergewinn) dann maximiert, wenn für jeden Produktionsfaktor das Gewicht (fachökonomisch: Produktionselastizität, anschaulich: Produktionsmächtigkeit), mit dem dieser zum Wirtschaftswachstum beiträgt, gleich dem Anteil seiner Kosten an der Wertschöpfung bzw. den Gesamtfaktorkosten ist. So weit die Theorie.
Doch die Realität sieht anders aus. Weisen doch Lehrbücher wie die berühmte "Volkswirtschaftslehre" des Ökonomie-Nobelpreisträgers Paul A. Samuelson darauf hin, dass es in modernen Industriegesellschaften keinen vollkommenen Wettbewerb gibt. Desgleichen sind die Annahmen der vollständigen Informiertheit und sofortigen Anpassung realitätsfern. Und die Annahme vollständiger Substitutierbarkeit von Energie durch Kapital widerspricht den ersten beiden Hauptsätzen der Thermodynamik - dem Grundgesetz des Universums. Zudem zeigen neue ökonometrische Analysen jenseits der Neoklassik, dass in hochentwickelten Industrieländern die Produktionsmächtigkeit der Energie viel größer und die der Arbeit viel kleiner ist als der jeweilige Kostenanteil von Energie und Arbeit. Das erklärt auch den Druck in Richtung wachsender Automation, Globalisierung und Arbeitslosigkeit.
Die Grundvoraussetzungen der neoklassischen Theorie haben also mit der
ökonomischen Wirklichkeit wenig gemein. Natürlich haben viele
Wirtschaftswissenschaftler die Fehler im System längst erkannt und
benannt und sich in Gegenbewegungen zur Neoklassik organisiert. Doch
diese dominiert weiterhin die Lehrbücher und Lehrstühle der
Volkswirtschaftslehre. Die damit verbundene Gefahr beschränkt sich
nicht auf den Fortbestand eines falschen akademischen Dogmas. Vielmehr
hat dieses ganz konkrete gesellschaftliche Auswirkungen, die unser
aller Leben betreffen.
Denn eine mächtige Theorie, die die physische Sphäre der Produktion
weitgehend unbeachtet lässt und politisch so verstanden wird, dass
Handel die Quelle allen Wohlstandes sei, führt in die Irre. So wird die
Kluft zwischen Arm und Reich immer größer, Ressourcenverschwendung und
Umweltbelastungen nehmen zu, und die Systeme zur Sicherung des sozialen
Friedens und der internationalen Rechtsordnung werden instabil.
Der Marxismus-Leninismus hatte das Dogma verkündet, die kommunistische Partei erkenne den Gang der Geschichte und führe die Menschheit zum Heile. Gestützt hatte sich dieser Glaube ebenfalls auf die Physik des 19. Jahrhunderts, gemäß deren mechanistisch-deterministischem Weltbild alles Geschehen exakt vorherbestimmt und die Zukunft erkennbar sei. Das Wirtschaftssystem der Sowjetunion und ihrer Satelliten wollte mit Fünfjahresplänen diese Zukunft in den Griff bekommen. Es ist gescheitert und zusammengebrochen, mit schlimmen Folgen für die Bevölkerung.
Das freiheitliche System der Marktwirtschaft hat sich global durchgesetzt. Seine Rahmenbedingungen dürfen nunmehr nicht durch falsche formale Analogien zur Mechanik des 19. Jahrhunderts bestimmt werden, sondern müssen die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften berücksichtigen.
Dem Marktfundamentalismus darf nicht die gleiche Chance geboten werden, Wirtschaft und Gesellschaft zu ruinieren, wie sie sein feindlicher Bruder Marxismus nur zu eindrucksvoll genutzt hatte.