Flotte Kurven, dünne Daten

Im Medienstreit um den Klimawandel bleibt die Wissenschaft auf der Strecke

Von Stefan Rahmstorf

 

Wenn ich derzeit meine Arbeit als Klimaforscher erwähne, höre ich oft: es ist ja wohl sehr umstritten, ob der Mensch für den Klimawandel verantwortlich ist. Verfolgt man diesen Sommer die Medien kann man durchaus diesen Eindruck gewinnen. In den Talkshows sieht man meist zwei Wissenschaftler, die entgegengesetzte Meinungen vertreten. Doch spiegelt diese Mediendiskussion auch die wissenschaftliche Diskussion wieder? Naturwissenschaftliche Diskussionen drehen sich um die Qualität und Stichhaltigkeit von Daten, Modellen und Argumenten, und sie werden in der Fachliteratur und bei wissenschaftlichen Konferenzen und Workshops geführt. Gibt es also einen solchen Wissenschaftsstreit? Streiten sich die Forscher darüber, ob die Erderwärmung vom Menschen oder durch natürliche Phänomene, etwa die Sonne, verursacht ist? Der zentrale Bezugspunkt aller Diskussionen um das Klima, und die wissenschaftliche Grundlage des Kyoto-Abkommens zum Klimaschutz, sind die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (lPCC), auf deutsch oft als der Klimabeirat der Vereinten Nationen bezeichnet (1). Bei der Erstellung seiner Berichte handelt es sich um einen offenen weltweiten Prozess, bei dem über zweitausend Wissenschaftler mitarbeiten. Gruppen von Fachleuten schreiben die einzelnen Kapitel, andere Gruppen begutachten diese Kapitel, die Entwürfe zirkulieren im Internet und jeder Wissenschaftler ist eingeladen, seine kritischen fachlichen Kommentare und Argumente einzubringen. Die Berichte fassen den Kenntnisstand der internationalen Klimaforschung insgesamt zusammen. Die Aussagen des jüngsten IPCC-Berichts vom Mai 2001 (2) sind klar: der Mensch verändert mit seinem Ausstoß von Kohlendioxid und anderen Gasen das Klima wahrscheinlich erheblich. Die Erde hat sich im vergangenen Jahrhundert bereits um 0.6 bis 0.8 Grad erwärmt, der größte Anteil dieser Erwärmung geht auf das Konto des Menschen, nur ein kleinerer Anteil ist auf Schwankungen in der Sonne zurückzuführen. Durch die Erwärmung schmelzen Gletscher, und Extremniederschläge nehmen zu. Wirtschaften wir so weiter, wird sich die Erde in diesem Jahrhundert nochmals um 1.4 bis 5.8 Grad erwärmen. Wenn so viele Wissenschaftler sich auf so eindeutige Aussagen einigen, deutet dies auf einen erstaunlichen Konsens hin.

Doch trügt der Schein dieser Übereinstimmung, ist er gar Resultat einer Art Verschwörung? Gibt es gewichtige fachliche Argumente, die vergessen, heruntergespielt oder gar unterdrückt worden sind? Gibt es also einen fachlichen Streit um die Kernaussagen des IPCC-Berichts, wie man es nach den Medienberichten denken könnte?

Meine Spurensuche beginnt mit einem Telefonanruf: ein Journalist fragt mich nach einer Stellungnahme zur „neuen Studie von Peter Neumann-Mahlkau, die zeigt, dass der Mensch nicht am Klimawandel schuld ist“. Ich bin überrascht - seit fünfzehn Jahren bin ich in der Klimaforschung tätig, doch dieser Name ist mir noch nie begegnet. Kein Problem, denke ich - schließlich gibt es heute eine umfassende Datenbank: den Science Citation Index (SCI) des Institute for Scientific Information, in dem sämtliche Artikel der wissenschaftlichen Fachzeitschriften (8661 an der Zahl) seit 1975 katalogisiert sind. Fehlanzeige - Neumann-Mahlkau, ein pensionierter Geologe, hat offenbar seit 1975 keine eigene Forschungsarbeit publiziert.

Seine „neue Studie“ bekomme ich am nächsten Tag auf den Tisch, als Sonderdruck verteilt vom Verband der Braunkohleindustrie (3), Es handelt sich um einen populärwissenschaftlichen Artikel, in dem Lehrbuchwissen aus der Klimageschichte referiert wird, wie ich es (allerdings auf aktuellerem Stand) auch meinen Studenten in meinen Paläoklimatologie-Vorlesungen vermittle. Neumann-Mahlkau folgert: Klimawandel gab es schon immer, und nicht nur durch CO2.Wer würde das bestreiten - niemand glaubt, dass CO2 der einzige Einflussfaktor auf das Klima ist. Neumann- Mahlkau's Behauptung, CO2 habe keine Wirkung (4), folgt daraus aber nicht.

Hier sind leider keine neuen fachlichen Argumente zu finden, über die man unter Forscherkollegen ernsthaft streiten könnte. Doch suchen wir weiter. Bei Sabine Christiansen (5) vertrat kürzlich Horst Malberg vom Meteorologischen Institut in Berlin die These, der derzeitige Klimawandel bewege sich völlig im normalen Schwankungsbereich, im Jahr 1790 sei es sogar schon mal deutlich wärmer gewesen als derzeit. Finden wir hier also einen wissenschaftlichen Widerspruch zum Bericht des IPCC? Der sagt nämlich, die neunziger Jahre seien nach den vorliegenden Daten sehr wahrscheinlich wärmer als jemals zuvor in den letzten l000 Jahren.

Doch es stellt sich heraus: Malberg spricht von einzelnen Regionen. Kein Klimaforscher behauptet, es sei überall wärmer als seit tausend Jahren, dies gilt nur für den Mittelwert über die gesamte Nordhalbkugel. Einzelne Orte sind wenig aussagekräftig; erst die globale Gesamtschau belegt die ungewöhnliche Erwärmung.

Malberg sagt weiter: nach seinen Untersuchungen seien zwei Drittel der Erderwärmung auf die Sonne zurückzuführen, nur ein Drittel auf menschliche Einflüsse. Endlich eine wissenschaftliche Aussage, die klar dem IPCC- Bericht widerspricht. Diese Untersuchung will ich sogleich im Detail nachlesen, ich schaue also in den Science Citation Index. Fehlanzeige: in Malbergs Publikationsliste findet sich gar nichts zum Einfluß der Sonne auf das Klima (6). Sollte er etwa seine Untersuchungsergebnisse im Fernsehen verbreiten, bevor er sie auf dem üblichen Wege den Fachkollegen zur Diskussion stellt?

Die Rolle der Sonne wird übertrieben

Wie es normalerweise geht zeigt das Beispiel seiner dänischen Kollegen Friis- Christensen und Lassen. Sie veröffentlichten 1991 eine Korrelation des Sonnenfleckenzyklus mit der Erdtemperatur im Top-Journal Science (7) und folgerten: die Erwärmung ist größtenteils auf die Sonnenaktivität zurückzuführen. So funktioniert ein Wissenschaftsstreit: nur eine solche Fachpublikation erlaubt es anderen Forschern, die Ergebnisse und Methoden nachzuvollziehen, zu diskutieren und zu kritisieren. Dänische Kollegen erhielten die Originaldaten und konnten zeigen, dass die gute Korrelation für die Erwärmung der Achtziger Jahre mit den ungefilterten Rohdaten nicht nachvollziehbar war (8) und auf einem statistischen Trick beruhte (9). Knud Lassen selbst zog vor über zwei Jahren seine Kurve zurück und ersetzte sie durch eine neue, auf der Grundlage aktuellerer Daten (10). Diesmal folgerte er: nach der Sonnenaktivität hätte sich das Klima in den letzten 25 Jahren nicht aufheizen dürfen, die starke Erwärmung gerade in diesem Zeitraum deutet auf den Einfluß des Menschen hin.

In Deutschland wirbt in der Öffentlichkeit vor allem Ulrich Berner von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe für die These vom dominanten Einfluß der Sonne auf das Klima: mit einem Buch (Klimafakten (11), einem Faltblatt und neuerdings einer Kurzversion des Buches, alle durch den Verband der Braunkohleindustrie großzügig unter Politikern und Journalisten verteilt (12). Dem Spiegel war es eine groß aufgemachte Geschichte wert (13). Doch der Citation Index verrät: auch Berner hat keine eigene Forschungsarbeit zum Einfluß der Sonne auf das Klima publiziert (14). Vielmehr argumentiert er mit der alten Sonnenkurve von Friis- Christensen und Lassen; die wurde auch neben seinem Spiegel-Interview im Juni 2001 abgedruckt - leider ohne jeden Hinweis auf die in Fachkreisen weithin bekannte (und auch im zuvor erschienenen IPCC-Bericht diskutierte) neue Version der Lassen-Kurve, die das Gegenteil seiner These belegt.

Auch zum Treibhaus hat Berner Klimafakten zu berichten: er betont, der Mensch trage nur 2% zum Treibhauseffekt bei. Der Laie atmet auf, der Einfluß des Menschen ist eben doch verschwindend gering. Doch auch hier schlummert kein Wissenschaftsstreit - die Zahl entstammt dem IPCC-Bericht. Streiten kann man höchstens darüber, wie Berner diesen Wert in seiner Öffentlichkeitsarbeit einsetzt (15): nämlich meist ohne zu erwähnen, dass der gesamte (natürliche) Treibhauseffekt etwa 33 Grad Celsius ausmacht; ohne ihn herrschte auf der Erde lebensfeindliche Kälte. Eine kurze Überschlagsrechnung macht auch dem Laien klar: Eine Verstärkung durch den Menschen um zwei Prozent passt gut zu der gemessenen Erwärmung von 0,7 Grad in den vergangenen 100 Jahren.

Berner vermittelt gerne den Eindruck, die These vom Treibhauseffekt werde von sogenannten Neoklimatologen vertreten, die das heutige und künftige Klima mit Computermodellen simulieren und in einer virtuellen Modellwelt leben; dagegen stünden die Paläoklimatologen, die die Klimageschichte erforschen und anhand von harten Daten, „Klimafakten“ eben, zu ganz anderen Erkenntnissen kommen. Vielleicht haben wir hier den Kein des Wissenschaftsstreits gefunden: Neoklimatologen gegen Paläoklimatologen? Das klingt plausibel.

Irritierend daran ist für mich nur, dass ich mich auch zu den Paläoklimatologen zähle - unsere Arbeitsgruppe am Potsdam-Institut hat in den letzten Jahren u.a. entscheidende Beiträge zum Verständnis des Eiszeitklimas oder zu Klimaänderungen während des Holozäns (etwa der Austrocknung der Sahara vor 5000 Jahren) geleistet. Auf allen internationalen Konferenzen über die Ursachen der Klimawechsel der Erdgeschichte werden unsere Arbeiten diskutiert. Unter internationalen Paläoklimatologen würden Berner's Thesen, wenn sie dort bekannt wären, lediglich ein Kopfschütteln ernten; die fahrenden Paläoklimatologen haben selbstverständlich am IPCC-Bericht mitgearbeitet. Ich verfolge eine letzte Spur: der Spiegel bringt zur „Sommer-Sintflut ein Streitgespräch der Klimatologen Mojib Latif und Heinz Miller. Die begleitende Grafik (16) könnte Anlass zu einem spannenden Wissenschaftsstreit geben: gezeigt wird eine Rekonstruktion der Temperaturentwicklung der Nordhalbkugel, die den im IPCC-Bericht gezeigten Rekonstruktionen in mehreren Punkten eklatant widerspricht. Zum Beispiel sieht es dort so aus, als sei es im Mittelalter bereits mindestens genauso warm gewesen wie heute. Vielleicht gibt es neue Daten, die noch nicht vom IPCC berücksichtigt wurden? Leider ist keine Quelle angegeben. Nachfrage beim Spiegel ergibt: es handelt sich um eine alte Grafik aus dem Archiv - aus der Zeit, bevor amerikanische Paläoklimatologen die ersten korrekt geographisch gewichteten Rekonstruktionen für die Nordhalbkugel aus Proxydaten (Eiskernen, Baumlingen, Korallen usw.) erstellten (17). Wieder kein Wissenschaftsstreit - nur eine überholte Kurve.

Eine echte wissenschaftliche Kontroverse hinter den Mediendiskussionen habe ich nirgendwo finden können. Leider - denn Wissenschaft lebt vom offenen und mit sachlichen Argumenten ausgetragenen Streit. Sie lebt davon, dass Forschungsergebnisse und Interpretationen auf Konferenzen präsentiert und in Fachjournalen publiziert werden - mit allen fachlichen und methodischen Informationen, die ein kritisches Hinterfragen und Nachprüfen ermöglichen. Auch abweichende Meinungen sind willkommen und großer Aufmerksamkeit gewiß. Innerhalb des IPCC gibt es viele unterschiedliche Meinungen zu etlichen Aspekten des Klimawandels. Selbst die oben dargestellten, heute als weitgehend gesichert geltenden grundlegenden Aussagen des IPCC könnten sich als falsch erweisen - Irrtümer hat es in der Wissenschaft schon früher gegeben. Doch um die derzeitigen Einschätzungen des IPCC zu erschüttern müssten konkrete neue Daten und Ergebnisse in fachlich nachvollziehbarer Form vorgelegt werden - Talkshows und PR-Kampagnen sind dazu nicht geeignet.

Die Elbeflut zeigt: es geht beim globalen Klimawandel nicht um eine rein akademische Diskussion. Jeder Klimawissenschaftler hat deshalb eine große Verantwortung, wenn er sich öffentlich äußert. Es ist unverantwortlich, in der Öffentlichkeit durch Weglassen von Fakten bewußt einen falschen Eindruck zu erwecken. Es ist ebenso unverantwortlich, voller Überzeugung Theorien zu vertreten, die nichteinmal durch wissenschaftliche Fachpublikationen gedeckt sind und die keiner kritischen Diskussion unter Kollegen unterworfen worden sind. Es geht um viel: eine falsche, auch eine zu lange hinausgezögerte Klimaschutzpolitik kann Menschenleben kosten.

Artikel ungekürzt erhältlich unter http://www.ozean-klima.de