Die Welt fährt Achterbahn
Von Stefan RahmstorfIn den letzten Jahren hat sich eine stille Revolution in unserem Verständnis des Klimas der Erde abgespielt. Das alte Bild ging von langsamen Klimazyklen aus, durch die über viele Jahrtausende Eiszeiten entstehen und wieder vorübergehen, angetrieben von den langsamen zyklischen Veränderungen der Erdbahn um die Sonne. Dieses Bild ergab sich vor allem aus den Schlammschichten am Grund der Ozeane, die sich im Laufe der Jahrmillionen abgelagert haben und aus denen man durch Bohrungen Klimadaten gewinnen kann.
Weil sich in tausend Jahren an den meisten Orten nur einige Zentimeter Schlamm ablagern, konnte man in den Sedimenten zunächst nur die langsamen Klimazyklen erkennen. Man sah zum Beispiel, dass die letzte Eiszeit vor rund 120.000 Jahren begann und vor 10.000 Jahren endete; die seither herrschende stabile Warmperiode, das Holozän, war die Voraussetzung für die Entwicklung der Landwirtschaft und der modernen menschlichen Zivilisation. Während der Eiszeit mussten sich unsere europäischen Vorfahren mit der Jagd auf pelzige Mammute in den eisigen Steppen durchschlagen.
Sprünge im Klima
Ein ganz neues Bild der Klimageschichte ergab sich vor allem aus den Bohrkernen im Grönland-Eis, die eine wesentlich feinere zeitliche Auflösung erlauben. Im Eis kann man sogar die einzelnen Jahresschichten der winterlichen Schneefälle erkennen, ähnlich den Jahresringen bei Bäumen. Zusätzlich zu den schon bekannten langsamen Zyklen zeigten sich nun abrupte Klimawechsel, bei denen sich die klimatischen Bedingungen innerhalb von wenigen Jahren dramatisch verändert haben. So kam es gegen Ende der letzten Eiszeit, als das Klima sich bereits weltweit erwärmte, zu einem plötzlichen Rückfall in eine extreme Kaltphase: die sogenannte Jüngere Dryas, die fast tausend Jahre andauerte. Während der letzten Eiszeit zählte man insgesamt 24 solcher abrupten Klimastürze. Das Klimasystem hat offenbar die Tendenz, plötzliche Sprünge zu machen. Diese Erkenntnis könnte für das kommende Jahrhundert wichtig werden, wenn der Mensch zunehmend in das Klimageschehen eingreift.Die Ursachen für die Klimasprünge sind noch nicht völlig verstanden. Alles deutet jedoch darauf hin, dass sie nicht durch plötzliche Änderungen in äußeren Faktoren wie der Sonneneinstrahlung ausgelöst werden, sondern im sprunghaften Charakter des Klimasystems selbst begründet sind. Anders gesagt: Beim Klima handelt es sich um ein stark nicht-lineares System.
Lineare Systeme sind sehr einfach: Wenn man sie „reizt“, reagieren sie um so stärker, je stärker der Reiz ist. Der Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion ist eine Gerade, er ist eben „linear“. Dreht man den Wasserhahn zwei Umdrehungen auf, fließt doppelt so viel Wasser wie bei einer Umdrehung. (Im Idealfall - über die lästige Nichtlinearität von Hotelduschen möchte ich hier nicht sprechen.) Komplexe Systeme sind fast immer stark nicht-linear. Charakteristisch ist eine Tendenz zur Selbstregulierung und zum plötzlichen Übergang in einen qualitativ anderen Zustand, wenn ein kritischer Punkt überschritten wird. Ein Beispiel ist der menschliche Körper. In einem weiten Bereich von Außentemperaturen, von tropischer Hitze bis zu eisiger Kälte, kann er seine Temperatur regulieren und nahe an 37° C halten. Setzt man ihn jedoch zu lange zu großer Kälte aus, fällt die Körpertemperatur auf einmal dramatisch (und dauerhaft) ab, und der Tod tritt ein.
Auch das Klimasystem hat offenbar im Rahmen bestimmter Grenzen eine Fähigkeit zur Selbstregulierung. Ein interessantes Beispiel dafür ist die Sahara. Schon Alexander von Humboldt folgerte nach seiner Reise ins Amazonasgebiet, dass der Regenwald selbst Wolken und Regen erzeugt, und spekulierte, dass auch in der Sahara genug Regen für üppiges Wachstum fallen würde, wenn die Bäume erst einmal da wären. Meine Kollegen am Potsdam-Institut haben mit Hilfe von Computersimulationen gezeigt, dass eine grüne Sahara in der Tat die Tendenz hätte, feuchte Atlantikluft und Monsunregen anzuziehen.
Schwimmer in der Sahara
Zu Beginn des Holozän war die Sahara tatsächlich grün. Davon zeugen nicht nur die Felsmalereien in der berühmten „Höhle der Schwimmer“ im Gilf Kebir (vor der sich damals ein See erstreckte), sondern auch viele Funde zum Beispiel von Flusspferdknochen. Durch die langsame Änderung der Erdbahn relativ zur Sonne wurden die Bedingungen für Monsunregen in der Sahara im Laufe der Jahrtausende immer ungünstiger. Interessant ist, dass die Vegetation nicht etwa ebenso langsam (linear!) abnahm, sondern sich bis zu einem gewissen Punkt fast vollständig halten konnte, dann aber plötzlich ganz verdorrte. Die Sahara kippte innerhalb von relativ kurzer Zeit zu der trockenen Wüste um, die sie bis heute geblieben ist. Das zeigen Daten und Computersimulation übereinstimmend. Die über weite Landstriche in der Sahara verstreut lebende Bevölkerung musste fliehen und drängte sich im Niltal zusammen, was vermutlich mit zum Entstehen der Pharaonischen Hochkultur beigetragen hat.Ein anderes, inzwischen recht gut erforschtes Beispiel für Nichtlinearität im Klimasystem sind die Strömungen im Atlantik. Quer durch den ganzen Atlantik, vom Kap der Guten Hoffnung im Süden bis nach Spitzbergen im Norden, findet eine gigantische Umwälzbewegung des Wassers statt, bei der das Meerwasser an der Oberfläche nordwärts strömt, dann absinkt und in zwei- bis dreitausend Metern Tiefe wieder nach Süden zurückkehrt. Der Golfstrom vor der nordamerikanischen Küste und seine Verlängerung nach Europa, der Nordatlantikstrom, sind nur Etappen in diesem Stromsystem, das durch Dichteunterschiede im Meerwasser angetrieben wird. Dort, wo die größten Dichten erreicht werden, in der Grönlandsee und der Labradorsee, sinkt das Wasser in die Tiefe und zieht damit, dem Abfluß einer Badewanne nicht unähnlich, immer neues Wasser nach Norden. Die dabei umgewälzte Wassermenge ist zwanzig mal so groß wie die Strömung aller Flüsse der Erde zusammengenommen.
Wenn der Golfstrom kippt
Weil das nach Norden strömende Oberflächenwasser wesentlich wärmer ist als das zurückströmende Tiefenwasser (das ja arktischen Ursprungs ist), funktioniert dieses System wie eine Zentralheizung für Europa. Riesige Wärmemengen, die in etwa der Leistung einer halben Million großer Kraftwerke entsprechen, werden in den Nordatlantik transportiert. Dort wird die Wärme an die Luft abgegeben, bevor sie mit den Westwinden nach Europa gelangt. Daher ist es im Winter bei uns bei Ostwind so bitterkalt, bei Westwindwetter jedoch mild. Schaut man auf Klimakarten, dann sieht man, dass es in Norddeutschland eigentlich rund fünf Grad zu warm ist für den Breitengrad - die entsprechenden Breiten Kanadas sind wesentlich kälter, selbst an der Pazifikküste. Anders als der Atlantik hat nämlich der Pazifik keine eingebaute Zentralheizung.So weit, so gut für uns Europäer. Doch leider hat das atlantische Stromsystem einen Haken: Es ist nicht ganz stabil. Zwar hat unsere Heizung während der letzten zehntausend Jahre offenbar tadellos funktioniert, wenn auch vielleicht mit kleineren Schwankungen. Davor hat sie jedoch erheblich gestottert und ist wiederholt sogar völlig zusammengebrochen, während der oben erwähnten Klimastürze innerhalb der Eiszeit. Das verraten die Tiefseesedimente. Der Grund für das eigenartige Verhalten der Strömung konnte durch Computersimulationen entschlüsselt werden und lässt sich einfach verstehen. Um schwer genug zum Absinken zu sein, muss das Wasser im Nordatlantik genug Salz enthalten, denn Salz erhöht die Dichte. Dem entgegen wirken jedoch die Niederschläge, die das Wasser verdünnen. Dieser Verdünnungseffekt greift jedoch nicht, solange immer neues, salziges Wasser von Süden her nachströmt. Kurz gesagt: Die Strömung fließt, weil das Wasser salzig ist, und das Wasser ist salzig, weil die Strömung fließt. Ein klarer Fall eines sich selbst aufrecht erhaltenden Systems. Erhöht man die Niederschläge über dem Nordatlantik immer mehr (solche Versuche kann man im Computer machen), schwächt sich die Strömung zunächst nur wenig ab. Irgendwann kommt jedoch ein Punkt, wo der Nachstrom von salzigem Wasser zu schwach wird, die Niederschläge verdünnen das Wasser, der Strom wird noch schwächer - ein Teufelskreis, der zum völligen Zusammenbruch der Strömung führt. Ein klassisches nichtlineares System, das sich innerhalb gewisser Grenzen selbst reguliert, bei Überschreiten dieser Grenzen aber regelrecht umkippt.
Die Brisanz dieser Erkenntnis liegt darin, dass durch den vom Menschen verursachten Treibhauseffekt die Niederschläge im Nordatlantik aller Voraussicht nach zunehmen werden. Schon 1987 warnte der amerikanische Klimaforscher Wallace Broecker in einem aufsehenerregenden Artikel mit dem Titel „Unpleasant Surprises in the Greenhouse“ (Unangenehme Überraschungen im Treibhaus) vor der Möglichkeit, dass der Mensch durch den Treibhauseffekt die Atlantikströmung zum Kippen bringen könnte. Seither arbeiten Forschergruppen weltweit daran, die Stabilität dieser Strömung genauer zu untersuchen.
Im Treibhaus könnte es kalt werden
Nach dem jetzigen Wissensstand besteht zwar sicher kein Anlass zur Panik, aber auch kein Grund zur Entwarnung. Wahrscheinlich wird sich die Atlantikströmung in den kommenden Jahrzehnten spürbar abschwächen - darin stimmen die Simulationen der verschiedenen Institute weitestgehend überein. Obwohl damit Europas Heizung langsam heruntergefahren wird, führt dies nicht zu einer Abkühlung - denn gleichzeitig erwärmt sich ja die ganze Erde durch den Treibhauseffekt, und dieser Effekt überwiegt auch in Europa.Was auf längere Sicht geschieht, ist weit weniger sicher. Wenn der Mensch weiter ungebremst die dünne Lufthülle unseres Planeten mit Treibhausgasen wie Kohlendioxid anreichert, könnte das Klima in die Nähe des Abrißpunktes des Nordatlantikstroms kommen. Wo genau dieser Punkt liegt, und ob und wann er überschritten werden könnte, 1äßt sich wegen der Ungenauigkeit heutiger Klimamodelle nicht eindeutig sagen. Auch dies ist eine Eigenschaft nicht-linearer Systeme: Die Vorausberechnung künftiger Trends ist wesentlich schwieriger als bei linearen Systemen. Die Existenz von kritischen Punkten, bei deren Überschreiten das Klima kippen kann, 1äßt sich zwar prinzipiell gut verstehen, aber deren genaue Lage und das Verhalten des Klimas in der Nähe solcher Punkte ist schwer zu berechnen. Für unseren Umgang mit dem Klimasystem bedeuten die neuen Erkenntnisse vor allem eines: größere Unsicherheit. Je weiter wir das Klima von seinem heutigen Gleichgewicht wegtreiben, desto größer wird das Risiko von unangenehmen Überraschungen. Broecker hat es einmal so formuliert: „Das Klima ist ein unberechenbares wildes Tier, und wir pieksen es mit Stöcken und reizen es.“
Wie könnte ein Abriß des Nordatlantikstroms aussehen? Wir haben am Potsdam-Institut einige Szenarien durchgerechnet und dabei festgestellt, dass die Temperaturen in Europa zunächst deutlich ansteigen würden, wenn auch etwas weniger als die globale mittlere Temperatur - in unserem Szenario um rund drei Grad bis zum Jahr 2100. Dann folgt der Kollaps und ein Temperatursturz zurück auf den vorindustriellen Wert. In den folgenden Jahrhunderten, wenn der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre langsam wieder abnimmt (da die Menschheit vermutlich nicht endlos weiter im heutigen Maße fossile Brennstoffe nutzen wird), sinken die Temperaturen in Europa immer weiter ab, bis sie letztlich rund fünf Grad kälter wären als derzeit. Eine regelrechte Achterbahnfahrt für uns Europäer, die ständige Anpassungen, erst an wärmeres und dann an kälteres Klima, erfordern würde. Am Ende wäre es so kalt und trocken, dass Landwirtschaft kaum noch möglich wäre. Der dann erreichte neue Klimazustand - eine Erde ohne die „Zentralheizung“ Nordatlantikstrom - ist übrigens in unseren Rechnungen über Jahrtausende stabil. Die Menschheit könnte also durch eine vorübergehende Störung, nämlich den nur wenige Jahrhunderte währenden fossilen Brennstoffboom, den Planeten dauerhaft in einen völlig anderen Klimazustand kippen.
Ein Jahrtausend-Risiko
Ob wir einen so tiefgreifenden Eingriff in das Klimasystem riskieren dürfen, ist letztlich eine ethische Frage. Für viele Menschen ist es sicher schwer vorstellbar, dass das eigene Handeln auf viele Jahrhunderte hinaus Folgen haben kann. Wir sind nicht gewohnt, so weit in die Zukunft zu blicken. Andererseits freuen wir uns über die Kirchen und Kunstschätze, die uns das Mittelalter hinterlassen hat - hätten die damaligen Menschen aber Europa aus Gier nach materiellem Wohlstand in eine unwirtliche Steppe verwandelt, unser vernichtendes Urteil wäre ihnen gewiß.Aus der rein sachlichen Sicht des Klimaforschers, der das Auf und Ab des Klimas über Jahrmillionen rekonstruiert und zu verstehen sucht, ist natürlich kein Klimazustand „besser“ als ein anderer, und der stetige Wandel ist die Regel. Doch als Bewohner eines mit sechs Milliarden Menschen bevölkerten Planeten, die größtenteils um das Nötigste zum Leben kämpfen, erscheint die Gefahr größerer und rascher Klimawandel beklemmend. Unsere Ökosysteme, Landwirtschaft und Siedlungsstrukturen sind an das heutige Klima angepaßt, jeder zu starke und rasche Wechsel kann zu großer Not führen. Gerade die Erkenntnis, dass das Klimasystem zu plötzlichen Sprüngen neigen kann, sollte uns sehr vorsichtig machen. Wir haben heute die technologisch fortgeschrittenste und wirtschaftlich potenteste Kultur, die dieser Planet bislang gesehen hat. Wir können bei klugem und vorausschauendem Handeln die Klimaänderungen in erträglichen Grenzen halten und das wilde Tier nicht zu stark reizen. Doch haben wir auch die moralische Stärke, für die langfristigen Folgen unseres Handelns die Verantwortung zu übernehmen?
(aus Solarbrief 4/99)