Datum: 15.07.05

Energieautonomie - Eine neue Politik für Erneuerbare Energien

Rezension zum neuen Buch von Hermann Scheer

von Alfons Schulte

Vorsicht! Hermann Scheers neues Buch „Energieautonomie“ ist keinesfalls eine seichte Urlaubslektüre. Vielmehr wird der Leser schon zu Beginn mit dem zentralen politischen Konflikt unserer Zeit konfrontiert: Sonne oder Atom, oder: die ersten Erfolge der Erneuerbaren Energien im Gegensatz zur Hegemonie der konventionellen, fossil-atomaren Energieversorgung. Ausgangspunkt sind für Hermann Scheer die vielfach nachgewiesenen Möglichkeiten eines vollständigen Energiewechsels sowie die schnellen Einführungsmöglichkeiten Erneuerbarer Energien. Vor diesem Hintergrund sind in Deutschland - so Scheers These - der Ersatz alter durch neue fossile oder atomare Großkraftwerke verzichtbar, wenn eine schnelle Markteinführung von Erneuerbaren Energien betrieben wird.

Im Gegensatz dazu versucht die bestehende Energiewirtschaft, mit weder technisch noch auf lange Sicht kostenmäßig durchdachten Konzepten wie emissionsfreien Kohlekraftwerken und der Vision einer Wasserstoffwirtschaft Antworten zu geben auf die Fragen, wie die Energieversorgung der Menschheit zukünftig angesichts in Kürze schwindender Erdöl- und Erdgasressourcen gewährleistet werden soll. Die Atomwirtschaft greift dabei auch zum letzten Strohhalm, der auf absehbare Zeit nicht zu beherrschenden Fusionstechnologie. Zudem wird weltweit ein exorbitanter Aufwand für Forschung und Förderung in zweifelhaften Projekten der fossilen und atomaren Energiewirtschaft investiert, statt Projekte mit Erneuerbaren Energien zu fördern, die mit bereits bestehenden und erprobten Technologien arbeiten.

Doch besitzt die fossil-atomare Energiewirtschaft immer noch den Heimspielvorteil: das etablierte konservative Energiesystem ist noch klar im Vorteil. Die Reformkräfte haben das Handicap, den Beweis einer Verbesserung antreten zu müssen. Die Energiekonzerne setzen auf das auch in der aufgeklärten Bevölkerung tief verwurzelte, jedoch blinde und unreflektierte Vertrauen auf eine sichere Energiebereitstellung, die nur durch das etablierte System mit fossilen und atomaren Kraftwerken möglich sei.

Hermann Scheer zerstreut die Hoffnung all derjenigen, die glauben, durch das Kyoto-Protokoll oder die vielen anderen Umweltkonferenzen zu einer wirksamen Umkehr zu gelangen. Ein nicht unerheblicher Anteil der Nichtregierungsorganisationen und der Umweltbewegung haben es sich im Umfeld von vielen Umwelt- und Klimakonferenzen bequem eingerichtet und damit offenbar das Ziel einer grundlegend auf Erneuerbaren Energien gegründeten Wirtschaft und Gesellschaft aus den Augen verloren. Oder sie geben sich in der „Kompromissdiplomatie“ mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner der erzielbaren Umweltergebnisse zufrieden. Auch dies sieht Scheer als, eine bewusste politische Strategie der konventionellen Energiewirtschaft, die auf das Einbinden und damit Lähmen der Gegner ausgerichtet ist.

Hermann Scheer entlarvt aber auch die offizielle Politik, die mit der Scheinliberalisierung der Energiemärkte effektiv einem noch größeren Konzentrationsprozess und damit einer noch umfassenderen Umklammerung durch transnationale, großindustrielle Energieunternehmen Vorschub geleistet hat. Diese lassen Erneuerbare Energien nur solange zu, wie diese einen marginalen Anteil besitzen. Die in Deutschland im Zusammenhang mit der EEG-Novelle 2004 geführten Kampagnen sowie die aktuellen Ressentiments gegen eine Überförderung der Windenergie lassen allerdings erkennen, dass die Schmerzschwelle des konventionellen Energiesystem langsam erreicht werden könnte. Hier müssen wir uns laut Scheer auf harte Verteilungskonflikte zwischen den Reformern und den Beharrungskräften im alten Energiesystem einstellen.

Als Lösungsstrategie („archimedischer Punkt“) sieht Scheer eine Energieautonomie. Diese Autonomie soll durch eine vollständig auf lokale Erneuerbare Ressourcen gegründete Energieversorgung hergestellt werden. Damit ist sie zwangsläufig eine dezentrale Strategie, die den Interessen der etablierten Energiewirtschaft diametral zuwiderläuft. Diese dezentrale Strategie eröffnet der Politik neue Handlungsmöglichkeiten, statt in die Fesseln einer transnationalen Energiewirtschaft gefangen zu bleiben. Sie ist damit zuallererst in der Lage, unsere demokratische Ordnung zu erhalten. Hermann Scheer fasst die Paradigmen des Energiewechsels in zehn Handlungsmaximen zusammen, die neben der Wiedergewinnung geistiger Autonomie ein neues wirtschaftliches Entwicklungsmodell für die gesamte Erde, Nutzung heimischer Ressourcen, eine reale Entflechtung der Energiewirtschaft auch die Überwindung des Wissensdefizits einschließen.

Gerade zur Überwindung dieses Wissensdefizits ist Scheers neues Buch ein wichtiger politischer Betrag. Sein Konzept ist angesichts der durch die Energiekrisen drohenden Weltdepressionen alternativlos. Die Vision Scheers von der Energieautonornie zeigt zudem den Weg aus den Strukturproblemen unserer Gesellschaften (u.a. Arbeitslosigkeit) und der Lethargie, die sich in weiten Kreisen unserer Bevölkerung angesichts der bisherigen, unwirksamen Lösungskonzepte breitgemacht hat.

Der aufgeschlossene Leser wird nach der Auseinandersetzung mit diesem Buch die Welt mit neuen Augen sehen: die Beweggründe und Aktionen der großen, transnationalen Energieunternehmen, die (Re-)Aktionen der Politik, die Konflikte um die zukünftige Energieversorgung. Angesichts dieser existentiellen Frage bleibt zu wünschen, dass möglichst viele Menschen dadurch aufgerüttelt werden und ihre politische Einstellung ändern und in praktisches Handeln umsetzen.

 

 

Hermann Scheer: Energieautonomie - Eine neue Politik für erneuerbare Energien
Verlag Kunstmann
320 Seiten gebunden mit Schutzumschlag
Erscheinungsdatum: 10.06.2005
ISBN 3-88897-390-2
Preis: 19.90 Euro