Arbeitskostenanteil nur 20 Prozent?
Wie unklare Begrifflichkeiten in die Irre führenvon Jürgen Grahl und Gerhard Hübener
In einem Spiegel-Interview hat Umweltminister Gabriel kürzlich erklärt: "Es ist doch abenteuerlich, dass wir in den Kostenbestandteilen der deutschen Industrie mehr als 50 Prozent Material- und Energiekosten haben und nur 20 Prozent Lohnkosten. Aber permanent wird nur darüber nachgedacht, wie man Leute arbeitslos machen kann, um die Kosten der Produktion zu senken. Viel besser wäre es, Kilowattstunden arbeitslos zu machen." [7]
Nun hat Gabriel mit dem Appell, lieber Kilowattstunden statt Menschen arbeitslos zu machen, aus sozialer wie aus ökologischer Sicht natürlich völlig Recht. Sein Versuch, dies auch ökonomisch zu begründen, muss jedoch unter den heutigen Rahmenbedingungen - leider - scheitern: Die Kosten des Produktionsfaktors Arbeit haben in den Industrieländern typischerweise einen Anteil von 65% bis 70% an der Bruttowertschöpfung, während die Energiekosten nur etwa 5% der Bruttowertschöpfung betragen ([1], [6], S. 626 und [10]). Es stellt sich daher die Frage, worauf sich Gabriels Aussage von den 20% Lohn- und 50% Material- und Energiekosten gründet.
Herr Gabriel verwendet offensichtlich eine andere statistische Bezugsgröße. Seine Zahlen sind auch durchaus korrekt. Nur beziehen sie sich anscheinend auf den Produktionswert und nicht auf die BruttoWertschöpfung. Diese Betrachtungsweise ist sogar weit verbreitet. Man sollte freilich wissen, zu welchem Zweck man mit welchen Zahlen argumentiert. Denn der Unterschied zwischen beiden Begriffen ist erheblich, auch wenn sie für Laien zum Verwechseln ähnlich klingen. Der Produktionswert ist eine rein statistische Größe: etwas vereinfacht der Umsatz aller verkauften Waren und Dienstleistungen. Darin stecken allerdings erhebliche Mehrfachzählungen an Produkten, die ihrerseits als so genannte Vorleistungen von einem anderen Werk eingekauft und weiterverarbeitet werden.
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung / Entstehungsrechnung [8]:
Produktionswert (Herstellungskosten) - Vorleistungen = Bruttowertschöpfung |
Um ein Beispiel zu geben: Für die Automobilindustrie fließt in den Produktionswert der Branche nicht nur der Wert des fertigen Autos, sondern zusätzlich noch einmal der Wert der von Zulieferern hergestellten und verkauften Bauteile wie Getriebe, Reifen, Sitze usw. ein; und zusätzlich zum fertigen Getriebe finden auch dessen eingekaufte Bestandteile wie Kugellager, Zahnräder, Schrauben usw. noch einmal eigens Berücksichtigung. Um die BruttoWertschöpfung zu erhalten, die die reale Eigenleistung der Branche widerspiegelt, müssen alle wechselseitigen Vorleistungen abgezogen werden. Zur Illustration des Ausmaßes der Mehrfachzählungen: Im Verarbeitenden Gewerbe betrug 2003 die BruttoWertschöpfung lediglich 33,5% des Bruttoproduktionswertes ([9], Tabelle 3.2.7).
Zitat Statistisches Bundesamt:"Als Maß für die wirtschaftliche Leistung sind die Produktionswerte aber nur bedingt brauchbar, weil in die Produktion auch die von anderen Wirtschaftseinheiten produzierten Vorprodukte einfließen." [9], S.14
Ebenso irreführend bei der Verwendung der Bezugsgröße Produktionswert ist der Umstand, dass die Vorleistungen auf der jeweils nächsten Stufe pauschal als Materialkosten geführt werden. Darin verschwunden sind alle für die Produktion dieser Vorleistung angefallenen Faktorkosten für Personal, Kapital (Maschinen, Produktionsanlagen etc.) und Energie.
Die von Gabriel genannten Relationen (hohe Materialkosten, geringe Personalkosten) erklären sich somit schlicht aus der Tatsache, dass auf jeder einzelnen Stufe der Wertschöpfungskette vor allem Personalkosten in Materialkosten umgewandelt werden. Die Angaben des Statistischen Bundesamtes machen den Unterschied deutlich: Im Produzierenden Gewerbe lag 2003 der Anteil der Arbeitskosten am Produktionswert bei knapp 25%. Bezogen auf die BruttoWertschöpfung betrug dieser Anteil jedoch fast 70% [9](Tabelle 3.2.7. siehe Tabelle unten). Im Automobilbau ist dieser Unterschied besonders augenfällig. Hier haben die Arbeitskosten am Produktionswert einen Anteil von lediglich 21%. [9] Das ist die Zahl, die in der Öffentlichkeit häufig genannt wird - vor allem, wenn nachgewiesen werden soll, dass die Personalkosten doch nur eine untergeordnete Rolle spielen würden. Wenn man aber den Wert aller Vorleistungen abzieht, ergibt sich ein völlig anderes Bild: bezogen auf die BruttoWertschöpfung, den Wert also, der den Vorleistungen durch Bearbeitung in der deutschen Automobilbranche hinzugefügt worden ist, lag der Anteil der Arbeitskosten bei knapp 78%! [9].
Damit sollte klar sein, dass es nicht gleichgültig ist, mit welchem Begriff wir argumentieren. Wenn man wissen will, welche Bedeutung die Personalkosten für den Produktionsstandort Deutschland haben (im Vergleich z.B. mit konkurrierenden Standorten in Osteuropa), sollte man sich besser auf die BruttoWertschöpfung beziehen. Beim Bezug auf den Produktionswert kommt man nämlich zu folgendem absurden Ergebnis: Je mehr die Zulieferindustrie aus Deutschland abwandert (vor allem wegen der hohen Arbeitskosten in Deutschland), desto höher wäre der Anteil der Vorleistungen (der sogenannten Materialkosten) und desto geringer der Anteil der Arbeitskosten. Fazit einer solchen Analyse: Je stärker die Wirtschaft aus Deutschland abwandert, desto weniger müssten wir bei den Personalkosten etwas ändern. Eine Argumentation, die nur in den Abgrund führen kann...
Tabelle 3.2.7: Produktionswert, Wertschöpfung und Arbeitnehmerentgelt 2003
Wirtschaftsgliederung | Produktions- wert (PW) (Mrd. EUR) |
Brutto- wertschöpfung (BWS) (Mrd. EUR) |
Arbeitnehmer- anteil (AE) (Mrd. EUR) |
Anteil AE an PW (%) |
Anteil AE an BWS (%) |
C bis F Produz. Gewerbe | |||||
D Verarbeitendes Gewerbe | |||||
DK Maschinenbau | |||||
34 Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen |
Irreführend ist es übrigens auch, wenn Gabriel Material- und Energiekosten in einem Atemzug nennt, da letztere gegenüber den o.g. "Materialkosten" kaum ins Gewicht fallen: Der Anteil der Energiekosten am Produktionswert des verarbeitenden Gewerbe lag 1993 bei lediglich 2,3% ([4], S. 108) und im Jahr 2003 sogar bei nur 1,6% [10]. Jetzt wird klar, weshalb sich aus den von Gabriel genannten Zahlen leider nicht folgern lässt, dass heute schon ein starker Anreiz für Ressourcen- und Energieeinsparungen bestehen müsse: Der Versuch, an den 50% Material- und Energiekosten zu sparen, hieße nur, Vorleistungskosten sparen zu wollen, welche aber wiederum hauptsächlich Arbeitskosten enthalten. Deutlich wird: nicht hohe Ressourcenintensität an sich ist teuer, sondern vor allem der damit einhergehende Arbeitseinsatz. Damit gilt: Die ressourcenverschwendende, automatisierte Produktionsweise mit minimalem Arbeitseinsatz ist unter den heutigen Rahmenbedingungen leider die betriebswirtschaftlich sinnvollere Variante.
Schließlich bedarf Gabriels Argumentation noch in anderer Hinsicht der Präzisierung: Aus einem bloßen Vergleich der Kostenanteile lassen sich noch keine wirklichen Rückschlüsse darauf ziehen, bei welchem Produktionsfaktor sich Einsparungen eher rentieren. Hierzu müsste man vielmehr neben den jeweiligen Kostenanteilen auch die wirtschaftlichen Leistungsfähigkeiten der Produktionsfaktoren kennen. Als Maß hierfür können die sog. Produktionselastizitäten dienen, welche die Gewichte angeben, mit denen relative Veränderungen des Faktorinputs auf die Wertschöpfung durchschlagen. Ökonometrische Untersuchungen einer interdisziplinären Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern der Universitäten Karlsruhe, Köln und Würzburg und der European School of Business Administration in Fontainebleau kommen nun aber gerade zu dem Ergebnis, dass die Produktionselastizität des Faktors menschliche Arbeit deutlich hinter dem entsprechenden Wert des Faktors Energie zurückhinkt: Demzufolge lag im Mittel der letzten Jahrzehnte die Produktionselastizität der menschlichen Arbeit in den Volkswirtschaften von Deutschland, Japan und den USA in einer Größenordnung von ca. 15%, die der Energie hingegen bei fast 50% ([3], [4], [5]). Diese Werte offenbaren ein krasses Missverhältnis zu den o.g. Kostenanteilen (Arbeit 65-70%, Energie unter 5%). Diese Schieflage, welche arbeitssparende und ressourcenverprassende Produktion betriebswirtschaftlich rentabel macht, ist der tiefere Grund dafür, weshalb die gutgemeinten Aufrufe zur Energie- und Ressourceneinsparung heute so oft ungehört verhallen.
Bloße Appelle an die Adresse der Wirtschaft haben nur selten etwas gefruchtet. Schon gar nicht, wenn man diese auf dem Gebiet der Kostenrechnung belehren will. Sinnvoller wäre es, wenn Herr Gabriel seinen Einfluss in der Bundesregierung nutzen würde, um die realen Kostenverhältnisse so zu verändern, dass seine Vision, Kilowattstunden einzusparen statt Arbeitskräfte, tatsächlich auch betriebswirtschaftlich sinnvoll würde. Dies wäre möglich, wenn sich die Steuer- und Abgabenlast an der Leistungsfähigkeit der Produktionsfaktoren orientieren würde: weg vom Faktor Arbeit, hin zum Faktor Energie. [2]
Quellen:
[1] E. F. Denison: Survey of Current Business, August 1979, Part II, S. 1-24 (1979)
[2] W. v. Fabeck: Arbeitsplätze und soziale Gerechtigkeit - Aber wie? Solarbrief 1/05, S. 14-20,
[3] J. Henn, R. Kümmel, D. Lindenberger: Capital, labor, energy and creativity: modeling innovation diffusion, Structural Change and Economic Dynamics 13 (2002), S. 415-433
[4] R. Kümmel: Energie und Kreativität, Teubner, Leipzig 1998
[5] R. Kümmel: Energie, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung - Umsteuern durch Energiesteuern, Solarbrief 1/04, S. 13-23
[6] P. Samuelson, W. Nordhaus: Volkswirtschaftslehre, Ueberreuther, Frankfurt 1998
[7] SPIEGEL 3/2006
[8] Statistisches Bundesamt (http://www.destatis.de/download/d/vgr/wichtige_zusammenhaenge.pdf)
[9] Statistisches Bundesamt:
Fachserie 18, Reihe 1.4, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung 2005
[10] Statistisches Bundesamt: Kostenstruktur der Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes, 2003, Fachserie 4, Reihe 4.3, Tabelle 5 (Absolutgrößen Energieverbrauch) und Tabelle 1 (Bruttowertschöpfung)