Im Bergischen Land, 50 Kilometer östlich von Köln, entsteht in einem Neubaugebiet ein „Klimaquartier“. Ein wichtiger, innovativer Aspekt dieses Pilotprojekts ist es, den überzähligen Solarstrom von den Hausdächern in einem gemeinsamen Quartierspeicher zwischenzu­speichern, anstatt in Dutzenden individuellen Hausspeichern. Der SFV unterstützt als Projektpartner diesen ökologisch und ökonomisch sinnvollen Ansatz. Für den Solarbrief stellt der Projektentwickler Michael Schäfer hier die Grundzüge des Konzepts vor.

 

Unser Unternehmen Eikamp GbR befasst sich mit der Entwicklung von Wohngebieten, vorzugsweise im Bereich Ein- und Zweifamilienhäuser. Uns ist dabei klar, dass Einfamilienhäuser aufgrund ihres Flächenbedarfs und ihres ungünstigen A/V-­Ver­hält­nis­ses auch kritisch betrachtet werden können. Auf der anderen Seite erfahren wir, nach der Pandemie noch verstärkt, den Wunsch insbesondere junger Familien „ins Grüne“ zu ziehen und sich den Traum vom eigenen Zuhause zu verwirklichen. 

Heute gebaute Häuser werden über einen langen Zeitraum bestehen bleiben und müssen daher schon zukünftige Erfordernisse bzw. Notwendigkeiten berücksichtigen. Hier setzt unsere Idee eines umweltverträglichen und klimagerechten Neubaugebietes an. Wir sind der Auffassung, dass die Versorgung mit Energie für Heizung / Warmwasserbereitung sowie des privaten Stromverbrauches und der Mobilität zwingend aus erneuerbaren Quellen kommen muss. In der Jahresbilanz ist das mit den heute vorhandenen Techniken gut zu schaffen und auch bezahlbar. Eine vollständige Autarkie ist, zumindest derzeit, noch mit zu hohen Kosten verbunden. Schließlich müssen ja vor allem Haus und Grundstück bezahlt werden.

Klimaquartier Bergneustadt Interview

Abb 1 — Michael Schäfer im Interview zu den Innovationen im Klimaquartier • 

Neben der Betrachtung der Energieversorgung sind auch die Materialien der geplanten Wohnhäuser auf ihre Klimaverträglichkeit zu prüfen. Vieles, was heute standardmäßig verbaut wird, besitzt einen zu hohen CO2-Fußabdruck und ist bei der späteren Entsorgung ein Fall für den Sondermüll. Deshalb haben wir Anforderungen für die Baumaterialien definiert, auf deren Grundlage die Häuser gebaut werden, und dieses in den Kaufverträgen für die Grundstücke notariell festgeschrieben. In der Regel werden die Häuser als Holzrahmenkonstruktion errichtet, die Dämmung erfolgt mit umweltverträglichen Materialien. BEG-Effizienzhausstandard 40 ist hierbei schon selbstverständlich. Zum ökologischen Gesamtkonzept gehören weiterhin ein Niederschlagswassermanagement und eine naturnahe Gartengestaltung.  


Wärmeversorgung

Zentraler Bestandteil der Wärmeversorgung ist ein „Kaltes Nahwärmenetz“, an welches alle Gebäude zur Beheizung und Warmwasserversorgung angebunden werden. Das Kalte Nahwärmenetz entnimmt über Erdsonden oder Erdkollektoren Bodenwärme im Bereich von 0 –15 °C und führt diese den dezentralen Wärmepumpen in den Gebäuden als Energiequelle zu. Gegenüber den heute vielfach installierten Luft-Wasser-Wärmepumpen erreichen wir hiermit deutlich bessere Wirkungsgrade und Jahresarbeitszahlen.


Stromversorgung

Die Stromversorgung der einzelnen Gebäude übernehmen Photovoltaikanlagen auf den Hausdächern mit einer Mindestleistung von je 10 kWp. Der erzeugte Strom wird in eine Kundenanlage gemäß § 3 Nr. 24a EnWG (Quartier- oder Mieterstromversorgung) eingespeist. Hierzu wird ein Arealnetz aufgebaut, welches an einem Anschlusspunkt mit dem vorgelagerten öffentlichen Versorgungsnetz verbunden ist. Strom wird nur zugekauft, wenn das Arealnetz nicht mehr in der Lage ist, alle Verbraucher des Gebietes zu versorgen.
Die Speicherung erfolgt zentral in einem Quartierspeicher, Einzelspeicher sind nicht vorgesehen. Quartierspeicher können in Zukunft eine wichtige Rolle für die elektrische Energieversorgung spielen. In einem Wohngebiet eingesetzt, können sie die volatile Stromerzeugung aus PV Anlagen und den Energieverbrauch ausgleichen. Gemeinsam genutzte Speichersysteme haben im Vergleich zu Einzellösungen ressourcensparende, technische und finanzielle Vorteile. Allerdings kann die Abrechnung sowie die notwendige Mess- und Regeltechnik aufwendig sein. Mit unserem Projekt soll deshalb erarbeitet werden, wie ein Quartierspeicher mit möglichst geringem technischem und finanziellem Aufwand errichtet und betrieben werden kann. Es soll als Best-Practice-Projekt zur Standardisierung von gemeinsamen Speicherlösungen beitragen.

Da es zur Umsetzung des Projektes eines Betreibers bedarf, soll des weiteren untersucht werden, wie ein wirtschaftlich tragfähiges Geschäftsmodell für Stadtwerke und Energieversorger aussehen kann. Im Rahmen der Umgestaltung des Energiesystems werden sich die Geschäftsfelder zukünftig weg vom reinen Strom- und Gasverkauf hin zu gesamtheitlichen Energielösungen entwickeln. 

Eine Arbeitsgruppe um Prof. Waffenschmidt von der TH Köln kümmert sich um die vielen noch offenen technischen und rechtlichen Fragen. Neben der Eikamp GbR sind die Kanzlei GGS aus Berlin sowie der SFV in Aachen Mitglieder der Arbeitsgruppe. 

Lageplan 2023-07-19 KPP21

© Eikamp GbR Abb 2 — Eine Planskizze für das Klimaquartier in Bergneustadt • 

Klimaquartier Bergneustadt

Im Plangebiet „Am Wiebusch“ in Bergneustadt wird das Konzept auf einer Fläche von 26.400 m² erstmalig in die Praxis umgesetzt und von der Stadt, insbesondere dem Bürgermeister, sowie der Sparkasse Gummersbach unterstützt. Das Bebauungsplanverfahren ist abgeschlossen, derzeit befinden sich die 36 Grundstücke in der Vermarktung. Vom Land NRW wurde das Projekt als erstes Klimaquartier NRW anerkannt und ausgezeichnet. Die Stadtwerke Solingen werden in Kooperation mit der Aggerenergie vor Ort im Rahmen eines  Contracting- bzw. Betreibermodells das Strom- und Wärmekonzept umsetzen und mit den Grundstückseigentümern monatlich abrechnen.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass ein Quartierspeicher deutliche Vorteile gegenüber individuellen Heimspeichersystemen bietet, wie sie beispielsweise in den Kellern einiger Einfamilienhäuser zu finden sind. In einer Studie konnte gezeigt werden: Mit einem Quartierspeicherkonzept lässt sich die benötigte Kapazität um bis zu 68 % reduzieren. Übertragen auf unser Projekt würde das bedeuten, dass rund 1400 kWh kumulierte Heimspeicherkapazität – also 36 Heimspeicher à 40 kWh – notwendig wären, um den gleichen Autarkiegrad zu erreichen, den wir mit einem zentralen Quartierspeicher von nur 450 kWh erreichen können.

Die Einsparung durch den zentralen Quartierspeicher hat erhebliche Auswirkungen auf Ressourcenschonung und Effizienz. Der geringere Bedarf an Speicherkapazität reduziert den Verbrauch von Rohstoffen wie Lithium und führt zu einem kleineren ökologischen Fußabdruck bei der Herstellung. Dies wirkt sich positiv auf die Umwelt aus und senkt die Gesamtkosten für Produktion, Wartung und Betrieb des Speichers, wodurch vor Ort ein günstiges und nachhaltiges Versorgungskonzept für die zukünftigen Eigentümer:innen entsteht.

Kollektorfeld für Kalte Nahwärmeversorgung

© Michael Schäfer Abb 3 — Beispielhaftes Kollektorfeld für Kalte Nahwärmeversorgung • 

Herausforderungen

Kalte Nahwärmenetze zur Wärmeversorgung sind schon in einigen Projekten erfolgreich umgesetzt worden, und es gibt entsprechend Erfahrungen mit dieser Technik. Die rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen für den dauerhaften Einsatz von Quartierspeichern und deren Finanzierung und Vermarktung sind in vielen Detailfragen aber noch nicht geklärt. Exemplarisch seien hier einige wichtige Punkte genannt: 

  1. Welche rechtlichen Anforderungen sind zu beachten und welche sind in Zukunft zu erwarten?
  2. Welche Messtechnik und welcher Abrechnungsaufwand sind unter den derzeitigen Rahmenbedingungen unverzichtbar?
  3. Müssen für den Eigenverbrauch im Netz Stromsteuer und Netzentgelte entrichtet werden?
  4. Wie können dynamische Stromtarife implementiert werden?
  5. Wie ist die Akzeptanz der Grundstückseigentümer für das Betriebsmodell mit einem Dienstleister im Vergleich zu dezentralen Eigenlösungen?
  6. Können aus Wirtschaftlichkeits- und Ressourcengründen „Second Life Speicher“ aus dem Automobilbereich eingesetzt werden?
  7. Unter welchen Umständen kann im Quartier eine Ersatzstromversorgung bei Ausfall der vorgelagerten Stromversorgung garantiert werden und wie lange?
  8. Kann der Speicher Netzdienstleistungen ggf. für die nächste Spannungsebene erbringen?


Es sind also noch einige Fragen zu klären, bis ein solches Konzept als Blaupause für andere Neubaugebiete genommen werden kann. Wir sind aber zuversichtlich, dass wir mit dem Klimaquartier Bergneustadt einen großen Schritt in die richtige Richtung gehen.

Nach derzeitigem Planungsstand gehen wir davon aus, dass wir im Quartier einen Autarkiegrad zwischen 65 und 70 % erreichen werden. Dafür ist eine Quartierspeicherkapazität zwischen 400 und 600 kWh erforderlich. Zu beachten ist, dass sich der Autarkiegrad aufgrund des Versorgungskonzeptes auf den Gesamtenergiebedarf bezieht. Das heißt, die zukünftigen Eigentümer:innen können 65 – 70 % ihres gesamten Energiebedarfs in den Bereichen Mobilität, Wärmeversorgung und Haushaltsstrom durch vor Ort erzeugte Energie decken!

 

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Über den Autor

Michael Schäfer

Michael Schäfer arbeitet mit der Firma Eikamp GbR an der Planung und Entwicklung von Klimaquartieren, insbesondere am Pionierprojekt „Klimaquartier Zum Wiebusch“ in Bergneustadt.