Der Staat New York klagt gegen den Erdöl-Konzern ExxonMobil (im Folgenden: Exxon). Ebenso die Bundesstaaten Kalifornien, Vermont, Connecticut, Massachusetts, Colorado, Maryland, Rhode Island und Hawaii. Städte in den USA wie z.B. Hoboken in New Jersey klagen, auch Counties (Landkreise) wie Multnomah in Oregon. Zuletzt haben im Dezember 2023 die Stadtverwaltung von San Juan auf der zu den USA gehörenden Karibikinsel Puerto Rico Exxon verklagt (wie ein Jahr zuvor bereits 37 weitere Kommunen dieser Insel), und gleichzeitig die „Indian Tribes“ (indigene Nationen) der Makah und der Shoalwater Bay in Washington.[1] – Was haben die nur alle gegen Exxon?

Der Erdöl-Konzern ExxonMobil ist einer der größten Fossilkonzerne der Welt. Exxon hat eine besonders schmutzige Geschichte der absichtlichen Irreführung von Politik und Öffentlichkeit über die Folgen der Fossilverbrennung. Denn der Konzern hatte seit den 70er Jahren selbst Klimaforschung betrieben, und die Ergebnisse zeigten, dass das Verbrennen von Erdöl zu einer massiven Erderwärmung führen würde. Hierüber wurde dann die Öffentlichkeit belogen, was im Hinblick auf die absehbaren Folgen dieser Erderwärmung als außergewöhnlich kriminelles Verhalten gewertet werden muss.

Nicht, dass Exxon eine Ausnahme unter den großen Erdölkonzernen wäre. Die Klagewelle, welche derzeit die USA durchzieht, richtet sich auch gegen Chevron, BP, Shell, Suncor, und gegen die Lobbyorganisation „American Petroleum Institute“ (API), in der all diese Konzerne zusammenwirken, um Einschränkungen ihres Geschäftsmodells zu verhindern. Aber Exxon ist der größte unter diesen Konzernen; er hat am meisten gewusst; und das ist bei ihm besonders gründlich erforscht.

 

Ölkonzerne als Klimaforscher

 

Dass Fossilkonzerne ein objektives Interesse daran haben, die Verbrennung fossiler Rohstoffe aufrechtzuerhalten oder zu steigern, ist nicht erstaunlich. Es ist die Aufgabe staatlicher Regulierung, dieses Interesse mit dem Interesse der Allgemeinheit an einer Verhinderung der Klimakatastrophe zu vermitteln. Die Konzerne haben den Zusammenhang zwischen Fossilverbrennung und Klimakatastrophe nicht auf dem Schirm, weil er nicht in ihre Daseins-Logik fällt – so könnte man meinen.

Umso erstaunlicher ist, dass Ölkonzerne sehr früh ein Interesse am Treibhauseffekt entwickelten. Wie erst kürzlich bekannt wurde, hat schon Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts die Öl-, Auto- und Luftfahrtindustrie, darunter auch das API, die „Southern California Air Pollution Foundation“ gesponsert, für die ein gewisser Charles David Keeling erste Messungen des atmosphärischen CO2-Gehalts in Kalifornien durchführte. Keeling hat seine Untersuchungen später am Mauna-Loa-Observatorium auf Hawaii systematisiert, was zur berühmten „Keeling-Kurve“ führte.[2]

Die "möglichen Folgen einer sich ändernden CO2-Konzentration in der Atmosphäre in Bezug auf das Klima ... könnten sich letztlich als von erheblicher Tragweite für die Zivilisation erweisen", schrieb Keelings Chef am California Institute of Technology (Caltech), Samuel Epstein, damals. Bereits Mitte der 50er Jahre, ganz am Beginn der „Great Acceleration“, des In-die-Höhe-Schießens des Erdölkonsums, wusste die Erdölindustrie um die Probleme ihres Geschäftsmodells. Spätestens seitdem geschieht die anthropogene Erderwärmung vorsätzlich. Allerdings auch das Gewährenlassen seitens der US-amerikanischen und anderer Regierungen.

Great Acceleration
Die "Great Acceleration" beim globalen Primärenergieverbrauch


 

Exxon allerdings ging in den 70er und frühen 80er Jahren noch weiter und betrieb relativ aufwändig eigene Klimawandel-Forschung. 1977 wurde z.B. der nagelneue Supertanker „Esso Atlantic“ mit Messgeräten ausgestattet, welche den atmosphärischen und ozeanischen CO2-Gehalt maßen. Damit sollte u.a. erforscht werden, welcher Anteil des emittierten Treibhausgases von den Ozeanen aufgenommen wurde.

Im Juli 1977 berichtete der Exxon-Wissenschaftler James F. Black in der Konzernzentrale vor einem Publikum einflussreicher „Ölmänner“ von einem „allgemeinen wissenschaftlichen Konsens darüber, dass die wahrscheinlichste Art und Weise, wie der Mensch das globale Klima beeinflusst, die Freisetzung von Kohlendioxid durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe ist“. "Nach heutiger Auffassung“, präzisierte Black ein Jahr später, „hat der Mensch ein Zeitfenster von fünf bis zehn Jahren, bevor die Notwendigkeit harter Entscheidungen über Änderungen der Energiestrategien akut werden könnte."[3] In einem Exxon-internen Zirkular hieß es 1982, das „CO2-Problem“ sei als „das größte potenzielle Hindernis für die Nutzung fossiler Brennstoffe“ anzusehen.[4]

Exxon erstellte Klimaszenarien, welche die stattfindende Erderwärmung sehr präzise modellierten. Sogar das Kohlenstoffbudget für eine Begrenzung der Erderwärmung auf unter 2°C konnten die Wissenschaftler:innen des Konzerns realistisch abschätzen, wie eine neuere Auswertung aller konzerninternen Klimaprognosen zwischen 1977 und 2003 zeigt.[5]

Die Exxon-Wissenschaftler:innen publizierten ihre Ergebnisse und ziemlich präzisen Prognosen auch in Fachzeitschriften, die dem Peer-Review-Verfahren unterlagen. Als es ab 2016 zu ersten Ermittlungen gegen den Konzern wegen Betrugs kam, verteidigte Exxon sich mit Hinweis auf diese Veröffentlichungen.[6] Aber die peer-reviewten Artikel ergaben nur das halbe Bild.

 

Vorsätzlicher Betrug

 

Geoffrey Supran und Naomi Oreskes präsentierten 2017 die Ergebnisse einer quantitativen Inhaltsanalyse von vier verschiedenen Textsorten, die von Exxon oder seinen Mitarbeiter:innen produziert wurden. Das Ergebnis: In internen Texten sowie in wissenschaftlichen Veröffentlichungen wurde zumeist beschrieben, dass das Problem der Erderwärmung 1) real, 2) menschengemacht, 3) schwerwiegend und 4) lösbar sei. Aber in „Advertorials“ – editorial-ähnlichen bezahlten Texten, die der Konzern in auflagenstarken Zeitungen wie der New York Times platzierte – wurde all dies gleichzeitig bestritten bzw. bezweifelt. So hieß es beispielsweise in einem internen Dokument: „Der derzeitige Trend beim Verbrauch fossiler Brennstoffe wird bis zum Jahr 2050 dramatische Auswirkungen auf die Umwelt haben.“ In einem Advertorial, das kurz vor der Klimakonferenz 1997 in Kyoto (COP 3) geschaltet wurde, äußerte man sich hingegen so: „Machen wir uns nichts vor: Die Wissenschaft des Klimawandels ist zu unsicher, um einen Aktionsplan aufzustellen, der die Volkswirtschaften in Turbulenzen stürzen könnte [...] Wir sollten in Kyoto keine übereilten Entscheidungen treffen.“[7]

Gerade die von den Exxon-Anwälten vorgelegten Veröffentlichungslisten seriöser Klimawissenschaft aus dem eigenen Hause beweisen daher, dass der Konzern gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit mit Behauptungen auftrat, deren Unwahrheit ihm bewusst sein musste – dass er also vorsätzlich gelogen hatte.

 

Die Klagewelle rollt an

 

Am 4. November 2015 schickte der Generalstaatsanwalt von New York, Eric T. Schneiderman, eine Vorladung an den Vizepräsidenten und Chefsyndikus von Exxon.[8] Der Verdacht: Exxon habe seine Aktienbesitzer:innen über Risiken durch die Steigerung des Treibhauseffekts getäuscht.

Der Ölkonzern hatte Student:innen, welche an der Enthüllung seiner Betrugsstrategie beteiligt waren, bei ihrer Journalistenschule angeschwärzt (erfolglos) und dabei auf seine finanziellen Zuwendungen an diese Schule verwiesen, für die er anscheinend Wohlverhalten erwartete.[9] Ökonomisches Kapital lässt sich regelmäßig in politisches und kulturelles Kapital ummünzen; aber es gibt erfreulicherweise Ausnahmen von dieser Regel.

2018 kam es in New York zur Anklage. Es ging um den Nachweis, dass Exxon intern andere Berechnungen über künftige Kosten von Klimaschutzmaßnahmen anstellte, als es seinen Aktionären vermittelte. Das Verfahren endete Ende 2019 mit einem Freispruch des Konzerns; wobei der Richter klarstellte, diese Absolution bedeute nicht, „ExxonMobil von der Verantwortung für den Beitrag zum Klimawandel freizusprechen".[10]

Warum der New Yorker Generalstaatsanwalt die Aktionäre als Geschädigte in den Blick nahm, nicht aber die durch das Handeln Exxons und dessen betrügerische Informationspolitik geschädigten Opfer der Erderwärmung, ist nicht bekannt. So legte er sich darauf fest, mehr über die “Risiken einer Regulierung des Klimawandels” zu sprechen als über die Risiken des Klimawandels selbst.[11]

Später eingereichte Klagen beriefen sich unmittelbar auf die Schäden, die der menschengemachte Klimawandel hervorruft. So fordert in der jüngsten Klage der County Multnomah (Oregon) von Exxon, einer Reihe weiterer Ölkonzerne und dem API eine Entschädigung in Höhe von 50 Mio. $ für bereits eingetretene sowie 1,5 Mrd. $ für künftige Klimaschäden, sowie die Einrichtung eines 50 Mrd. $ schweren Fonds für eine Linderung des Klimawandels. Zur Begründung wird vorgebracht, dass die Beklagten "einen Plan zum habgierigen Verkauf von Produkten aus fossilen Brennstoffen verfolgten und diese in irreführender Weise als unschädlich für die Umwelt anpriesen, obwohl sie wussten, dass die von ihren Produkten in die Atmosphäre abgegebene Kohlenstoffverschmutzung wahrscheinlich tödliche extreme Hitzeereignisse wie dasjenige verursachen würde, das Multnomah County Ende Juni und Anfang Juli 2021 verwüstete". Es wurde ferner darauf hingewiesen, dass die Angeklagten bereits seit Ende der 50er Jahre wussten, dass ihr Handeln solche Konsequenzen haben würde.[12]

 

Ausblick

 

Die meisten Klageverfahren gegen Exxon und die anderen Ölkonzerne sind noch nicht entschieden. Immerhin gab es am 24. April 2023 einen großen Etappensieg für die Kläger:innen, als der Oberste Gerichtshof den Wunsch der Konzerne ablehnte, die Behandlung der Fälle vor den unteren Gerichtsinstanzen zu verhindern, bei denen sie eingereicht wurden.[13] Die einzelstaatlichen Gerichte konnten daraufhin ihre Arbeit aufnehmen. Da auch die Beweislage für den vorsätzlichen Betrug der Öffentlichkeit durch Exxon (und die im API mit ihm kooperierenden anderen Ölgesellschaften) durch die Recherchearbeit von Wissenschaftler:innen wie Naomi Oreskes, Geoffrey Supran und Stefan Rahmstorf inzwischen ziemlich wasserdicht ist, kann man hoffen, dass das betrügerische Verhalten von Exxon zumindest in einigen US-Bundesstaaten nicht ungesühnt bleibt.  Das wäre angesichts des durch klimapolitische Untätigkeit angerichteten Schadens nur ein schwacher Trost: Der zehntausendfache Verlust an Menschenleben, die Vernichtung der Lebensgrundlagen für Millionen, die unwiederbringlichen Zerstörungen von Ökosystemen, von Artenvielfalt und von Zukunftschancen der Menschheit – all dies ist auch mit dem gesamten Reichtum sämtlicher Ölkonzerne nicht wiedergutzumachen. Aber ein starkes Signal für die Zukunft wäre die juristische Bestrafung von Exxon und den anderen Ölmultis immerhin – ein globaler Ansporn für die Nutzung der rechtlichen Arena in den heutigen Klimakämpfen gegen die fossilen Großkonzerne.

Vieles hängt allerdings vom Ausgang der nächsten Präsidentenwahl in den USA im kommenden November ab. Sollte der Präsident erneut Donald Trump heißen, würde auch die Unabhängigkeit der Justiz auf dem Spiel stehen. Und nicht grundlos hatte Trump in seiner ersten Amtszeit den vorherigen Geschäftsführer und Präsidenten des Exxon-Konzerns, Rex Tillerson, zum Außenminister der USA gemacht.

 

Nachweise

 

[1] Climatecasechart, https://climatecasechart.com/search/?fwp_search=Exxon;
L. Delta Merner: US States and Communities are Suing the Fossil Fuel Industry: Six Things You Need to Know, https://blog.ucsusa.org/delta-merner/us-states-and-communities-are-suing-the-fossil-fuel-industry-six-things-you-need-to-know/

[2] Fossil Interests Funded, Knew About Climate Research in 1954, Investigation Reveals, https://www.theenergymix.com/fossil-interests-sponsored-earliest-known-climate-research-investigation-reveals/; Rebecca John: New Evidence Reveals Fossil Fuel Industry Sponsored Climate Science in 1954, https://www.desmog.com/2024/01/30/fossil-fuel-industry-sponsored-climate-science-1954-keeling-api-wspa/

[3] Neela Banerjee, Lisa Song und David Hasemyer: Exxon’s Own Research Confirmed Fossil Fuels’ Role in Global Warming Decades Ago, https://insideclimatenews.org/news/16092015/exxons-own-research-confirmed-fossil-fuels-role-in-global-warming/

[4] Exxon Research and Engineering Company: CO2 GREENHOUSE EFFECT. A TECHNICAL REVIEW, https://insideclimatenews.org/wp-content/uploads/2015/09/1982-Exxon-Primer-on-CO2-Greenhouse-Effect.pdf

[5] Geoffrey Supran, Stefan Rahmstorf und Naomi Oreskes: Assessing ExxonMobil’s global warming projections. In: Science, Vol 379, Issue 6628, 13.1.2023, https://www.science.org/doi/10.1126/science.abk0063;
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung: Ölkonzern Exxon kannte Klimawirkung ganz genau: neue Studie in 'Science‘, https://www.pik-potsdam.de/de/aktuelles/nachrichten/oelkonzern-exxon-kannte-klimawirkung-ganz-genau-neue-studie-in-science

[6] Geoffrey Supran und Naomi Oreskes: Assessing ExxonMobil’s climate change communications (1977-2014). In: Environmental Research Letters 12 (2017), S. 1-18, hier: S. 2.

[7] Zitate nach: Supran/Oreskes: Assessing ExxonMobil’s climate change communications.

[8] State of New York, Office of the Attorney General: Subpoena for Production of Documents to S. Jack Balagia, Jr., Vice-President and General Counsel, Exxon Mobil Corporation, 4.11.2015, https://climatecasechart.com/wp-content/uploads/case-documents/2015/20151104_docket-na_subpoena.pdf

[9] Rüdiger Haude: Mobbing und Staranwalt. Wie ExxonMobil auf die Enthüllung seiner kriminellen Klimawandel-Vertuschung reagiert, 9.12.2015, https://www.sfv.de/artikel/mobbing_und_staranwalt

[10] David Hasemyer und Nicholas Kusnetz: Judge Clears Exxon in Investor Fraud Case Over Climate Risk Disclosure, 10.12.2019, https://insideclimatenews.org/news/10122019/exxon-ruling-climate-investor-fraud-new-york-case-impact/

[11] Supreme Court of the State of New York, New York County: Decision after Trial, 10.12.2019, https://climatecasechart.com/wp-content/uploads/case-documents/2019/20191210_docket-4520442018_decision.pdf 

[12] County of Multnomah vs. ExxonMobil, Complaint, 22.6.2023, https://climatecasechart.com/wp-content/uploads/case-documents/2023/20230622_docket-23CV25164-_complaint.pdf

[13] Supreme Court of the United States, Order List, 24.4.2023, https://climatecasechart.com/wp-content/uploads/case-documents/2023/20230424_docket-21-1550_order-list-1.pdf, Nummern 21-1550, 22-361, 22-495, 22-523 und 22-524.