Den Gedanken der Gemeinschaftlichkeit stärken!
Photovoltaik auf die Dächer von Mehrfamilienhäusern bringen – das bedeutet die Erschließung eines großen brachliegenden Potenzials. Damit dies gelingt, reicht es allerdings nicht aus, juristische und bürokratische Hemmnisse aus dem Weg zu räumen – so wichtig dies ist! Es gilt auch zu untersuchen, welche Hindernisse auf kultureller und psychologischer Ebene der Hebung dieses Potenzials entgegenstehen. Immerhin müssen bei einem Mehrfamilienhaus die verschiedenen Parteien in der Lage und auch willens sein, für das gemeinsame Projekt zu kooperieren. Dem könnte der weit fortgeschrittene gesellschaftliche Prozess der Individualisierung im Wege stehen.
Mehrfamilienhäuser sind nicht gerade als Hotspots des Miteinanders berühmt. Vielmehr ist die Anonymität in „Mietskasernen“ seit langem ein feststehendes Vorurteil im Nachdenken über Siedlungspolitik. Man denkt an seelenlose Treppenhäuser, in denen sich Nachbarn bestenfalls einen knappen Gruß abringen, wenn sie sich begegnen.
Klar: Die Realität ist vielfältiger: Es gibt funktionierende Hausgemeinschaften (ebenso wie es umgekehrt anonymisierte Ansammlungen von Einfamilienhäusern gibt). Aber dennoch ist das Vorurteil nicht ganz gegenstandslos. Ein Trend zur Vereinzelung ist eines der Kennzeichen der sozialen Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte. Der Begriff „Individualisierung“ zeigt an, dass dieser Prozess zunächst einmal mit Zugewinnen an Freiheit verbunden war. Strukturelle Veränderungen in den Gesellschaften führten zur Ausdehnung der Bildung, zur Entstehung sozialstaatlicher Sicherungen und zu gesteigerter Mobilität der Menschen. Die Folge: Die Einbettung in festgefügte Milieus (katholisch, proletarisch …) machte freien Entscheidungen zum Lebensstil Platz, Zwänge und Selbstverständlichkeiten großer Organisationen wie der Kirchen zerbröselten. Gewerkschaften und Parteien büßten stark an Mitgliedern ein.
Nicht nur Freiheitsgewinne
Hier zeigt sich aber schon eine Kehrseite des Individualisierungsprozesses. Wenn die organisierte Macht der Vielen schwindet, was bleibt dann übrig im gesellschaftlichen Machtgefüge? Für die Inhaber der ökonomischen Macht ist es sehr praktisch, nur noch atomisierten Individuen gegenüberzustehen. Die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die die Gewerkschaften bekämpfte und den Sozialstaat ruinierte, prägte 1987 den berühmten Satz: „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt einzelne Männer und Frauen und es gibt Familien.“ Zu dieser Zeit war auch in Westdeutschland unter dem Kanzler Helmut Kohl längst die neue Turbo-Stufe der Individualisierung gezündet worden. Seine „geistig-moralische Wende“ strebte einen Sozialabbau an. „Leistung“, so hieß es, müsse sich wieder lohnen. Wobei Reichtum der einzige Indikator für so verstandene „Leistung“ war. Ein Milliardärs-Erbe oder erfolgreicher Börsenzocker hat nach dieser Logik mehr „geleistet“ als z. B. eine Krankenpflegerin, die nach einem kräftezehrenden Arbeitstag mit einem Hungerlohn nach Hause geht. Reichtum, so lässt sich der Slogan von der sich lohnenden Leistung reformulieren, muss zu mehr Reichtum führen. Und genau das passierte in der Folge verschärft.
40 Jahre später ist die Durchsetzung dieses Konzepts, das auf der Leugnung der Existenz von Verantwortungsgemeinschaften beruht, weit gediehen. Längst haben sich weitere Kehrseiten der Befreiung von alten Zwängen gezeigt. Dass die Mehrheit der Individuen in ihren motorisierten Kokons (alias Autos) allein zur Arbeit fahren, oder dass 41 % der Haushalte in Deutschland heute aus nur einer Person bestehen, belastet die Ressourcen und führt zu großen ökologischen Problemen. Zugleich sehnen viele Menschen sich nach dem, was ihnen verloren ging. Ein frei flottierendes Bedürfnis nach Gemeinschaftlichkeit sucht sich alle möglichen Erfüllungen auf dem unüberschaubaren Markt der Möglichkeiten. Die Anhänglichkeit gegenüber dem lokalen Fußballverein ist dabei noch die traditionellste Möglichkeit. Hier, und stärker noch in der Begeisterung für Popmusik-Stars, hat in den vergangenen Jahrzehnten eine massive Ökonomisierung stattgefunden; das Bedürfnis nach gemeinschaftlichem Erleben macht wenige Menschen sehr, sehr reich.
Auch bei aufflammendem Protest beziehen Tausende eine starke Befriedigung nicht nur aus dem Sinn, sondern auch aus der Gemeinschaftlichkeit ihres Handelns. 2019 war das bei der „Fridays-for-Future“-Bewegung sehr schön zu beobachten. Psychologisch gesprochen, passiert bei „Querdenker“-Demos oder inhaltlich ähnlich unerfreulichen Gruppenbildungen aber etwas sehr Ähnliches. Nicht wenige, die sich so anlassbezogen vergesellschaften, streben anschließend wieder zurück in ihre Vereinzelung.
Praktisch kostenlos ist jene Identifikationsgröße, die vor gut 200 Jahren erfunden wurde und seitdem maßloses Unheil über den Planeten gebracht hat: die Nation. Auch hier ist es praktisch für die Gewinner des Status quo, wenn sich die meisten Menschen mit ihren Ängsten und Bedürfnissen gegen ein „Außen“ positionieren, anstatt genauer hinzuschauen, welche Probleme und Ungerechtigkeiten eigentlich „Innen“ vorliegen – oder für „Innen“ und „Außen“ gleichermaßen. „Nation“ und „Markt“ sind zwei Prinzipien, die sich im Grunde widersprechen; in der Praxis funktioniert ihre Zusammenarbeit aber ganz prima.
Positiven Kipppunkt schaffen
Wie kommen wir aus der Vereinzelungsfalle? Klar ist, dass die großen ökologischen, politischen und sozialen Probleme in unserer Gesellschaft sich nur dann werden lösen lassen, wenn die beschriebenen Trends gebrochen werden können. Das lässt sich aber nicht einfach von oben verordnen. Es muss sich vor allem von unten entwickeln. Wäre es da nicht lohnend, sich noch einmal die Mehrfamilienhäuser anzuschauen? Und von den Erfahrungen mit der Energiewende zu lernen? Wohl stimmt es, dass der Siegeszug der Photovoltaik in Deutschland seit dem Jahr 2000 auch durch einen Appell an das individuelle Gewinnstreben von Hausbesitzer:innen ermöglicht wurde. Aber für viele war es auch ein Erlebnis kollektiver Selbstermächtigung, wenn die vier monopolistischen Stromkonzerne sich plötzlich mehr als einer Million kleiner Stromproduzent:innen gegenüber sahen, die ihnen Stückchen vom Kuchen wegschnappten.
Den Konzernen fiel nichts Besseres ein, als über desinformierende Strompreis-Kampagnen Neid zu erzeugen, besonders bei jenen, die kein eigenes Dach für eine PV-Anlage besaßen. An diesen Kampagnen war aber eines richtig. Nicht, dass die Erneuerbaren die Preise in die Höhe trieben. Aber, dass die Menschen in Mehrparteienhäusern von einem Haupt-Vorzug der PV-Anlagen lange ausgeschlossen blieben: den selbst produzierten Strom teilweise kostenlos selbst verbrauchen zu können. Es ist sehr wichtig, dass diese soziale Lücke in der deutschen Energiewende endlich geschlossen wird. Der psychologische Erfolg der Energiewende muss sich verallgemeinern!
Gemeinschaftliche Gebäudeversorgung, Mieterstrom, Energiegenossenschaften, privat betriebene Quartierspeicherprojekte haben deswegen eine ganze Reihe wichtiger Vorzüge. Erstens erschließen sie in großem Stil neue Potenziale für Erneuerbare Energien; das gilt besonders für die Dächer von Mehrfamilienhäusern. Zweitens nehmen sie den Neidkampagnen konzernnaher Lobbyorganisationen wie der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) das letzte bisschen Wind aus den Segeln. Und nicht zuletzt, drittens, können sie als Labore dienen, in denen auf der Ebene von Nachbarschaften das Bedürfnis nach Gemeinschaftlichkeit sich betätigen kann. Ja, Nachbarn müssen sich zusammenraufen; aber sie tun dies, um einen Gewinn miteinander zu teilen, der auch, aber nicht nur, finanzieller Natur ist. Das Gefühl, gemeinsam das Richtige zu tun und sogar für Unbeteiligte das größte Problem unserer Gegenwart – die Klimakatastrophe – dämpfen zu helfen, kann ein sehr befriedigendes Gefühl sein. Meistens wird davon ein weit stärkerer Anreiz ausgehen als von der Erstellung des Putzplans für das gemeinsame Treppenhaus.
Dieses Gefühl enthält auch die erneuerte Lehre, dass das Zusammenwirken mit den Nachbarn keine Zumutung sein muss, sondern in vielen Fällen geradezu Sinn und Erfüllung stiften kann. Das wird die gesellschaftliche Hegemonie der neoliberalen Vereinzelung nicht automatisch stürzen. Es könnte aber ein Beitrag zu einem Prozess sein, der irgendwann zu einem „positiven Kipppunkt“ führt, wie der „Global-Tipping-Points“-Report das formuliert. Denn Gesellschaften sind mindestens so nichtlinear wie das Klimasystem.
Wir müssen diesen positiven Kipppunkt von den Graswurzeln her ansteuern. Das nachfolgende Praxisbeispiel belegt: Das technisch Notwendige zusammen mit anderen umzusetzen, kann richtig gute Laune machen! Freude, mit Sinn und persönlichem Gewinn gepaart – hoffentlich macht das Schule, auch unter den Dächern von einem Drittel des deutschen Häuserbestands, wo mehr als eine Partei lebt.