In einer Beschlussvorlage für den Landtag von Nordrhein-Westfalen hat die FDP-Landtagsfraktion am 15.11.2022 u.a. beantragt, „die geltenden Möglichkeiten des Rechtsstaates konsequent als auch repressiv im Sinne einer Null-Toleranz-Politik auszuschöpfen“ (6). Ziel ist es zu gewährleisten, dass „in Lützerath kein Hambacher Forst 2.0 entsteht“ (so die Überschrift des Antrags) (1).[1]

Es handelt sich um ein Dokument des Verfalls einer einstmals seriösen Partei, die vor einem halben Jahrhundert sogar als Anwältin der bürgerlichen Freiheiten gegen staatliche Allmachts-Bestrebungen gelten konnte. Der 2020 verstorbene frühere NRW-Innenminister Burkhard Hirsch stand für diese Tradition; sein Andenken wird durch den vorliegenden Antrag geradezu besudelt.

Die heutige FDP-Fraktion hat noch weitere Forderungen in ihren Antrag geschrieben: „unverzüglich“ solle ein „umfassendes Räumungskonzept für das Dorf Lützerath“ vorbereitet werden; der Verfassungsschutz solle „materiell sowie personell im Bereich ‚Radikale Klimabewegungen/Linksextremismus‘“ gestärkt werden; der RWE-Konzern in die Planungen einbezogen werden; und noch einiges mehr, was man heute anscheinend für Liberalität hält (5f). Schon die „Vorbereitungen der radikalen Gruppen“ solle der Rechtsstaat „mit allen präventiven Mitteln […] unterbinden“ (3). Da ist den Freidemokraten der Applaus einer weiteren Landtagsfraktion sicher, mit der sie zwei der drei Buchstaben und offenbar inzwischen auch zwei Drittel der Grundüberzeugungen teilt.

Aber so richtig spannend wird es bei der Begründung des Antrags im Kapitel „Ausgangslage“. Die dort vorgetragenen argumentativen Manöver sind sattsam bekannt, aber selten wurden sie so durchsichtig vorgetragen. Es geht im Wesentlichen um zwei miteinander verknüpfte Kurzschluss-Manöver, die sich in dem drei mal verwendeten Leitbegriff des „Deckmantels“ offenbaren.

1) Radikal = desinteressiert am Klima

„Radikale Gruppen wie ‚Extinction Rebellion‘, ‚Ende Gelände‘ oder die ‚Letzte Generation‘ […] wählen zunehmend den Weg der Delinquenz. Sie versuchen, […] unter dem Deckmantel des Klimaschutzes ihre eigenen Interessen oder politischen Forderungen durchzusetzen“ (1). Diese Formulierung unterstellt, zu den Interessen bzw. Forderungen der genannten Gruppen könne auf gar keinen Fall der Klimaschutz gehören. Das Verhältnis zwischen Klima- bzw. Umweltschutz und Radikalität ist nach dieser Lesart eines des gegenseitigen Ausschlusses. Das ist natürlich blanker Unsinn. Tatsächlich ist gerade der Mangel an Radikalität im Regierungshandeln der Grund dafür, dass die Klimakatastrophe nun fast unausweichlich geworden ist. Die NRW-FDP möchte weiter Business-as-Usual machen; das zeigt sich nicht nur in ihrem Versuch eines Ausschlusses radikalen Denkens aus dem Klimadiskurs, sondern auch im ausdrücklichen Insistieren auf der Alternativlosigkeit „unser[es] bestehende[n] marktwirtschaftliche[n] und demokratische[n] System[s]“ (2).

2) Radikal = gewalttätig

Ohne den Hauch eines Nachweises behaupten die Freidemokraten, dass „nicht der Klimawandel für linksextreme Gruppen der Gegner ist, sondern die Polizei selbst“ (3). Dass in Lützerath „neben klimaschutzbezogenen Parolen Transparente und Graffiti mit eindeutigen linksextremistischen Forderungen und Symbolen“ zu finden sind, belegt nach der Meinung der FDP-Fraktion „den Versuch, gewalttätige Proteste salonfähig zu machen“, natürlich wieder „unter dem Deckmantel des Klimaschutzes“ (3). Dies ist der zweite Kurzschluss: Wer linksextrem ist, ist notwendig gewalttätig. Da nützt es den namentlich angegriffenen Gruppen „Extinction Rebellion“, „Ende Gelände“ oder „Letzte Generation“ wenig, dass sie alle mit einem dezidiert gewaltfreien Aktionskonsens operieren. Für die FDP-Fraktion scheint es das Ultimum an Gewalt zu sein, sich einem Schaufelradbagger in den Weg zu stellen oder sich bei einer Straßenblockade auf der Fahrbahn festzukleben. Völlig aus der Luft greifen die Autoren (es sind vier Männer) die Behauptung, es komme durch diese Aktionen „immer wieder und immer öfter zu Gefährdung von Menschenleben“ (1). Dass es 2018 der monströse „Null-Toleranz“-Einsatz des Herbert Reul war, der im Hambacher Wald das Menschenleben eines Aktivisten forderte, wird verschwiegen. Nein, es seien die „Einsatzkräfte“, „welche sich im Ernstfall gewaltbereiten ‚Klimaaktivisten‘ unter dem Einsatz ihres Lebens entgegenstellen“ (5). Eine so blühende Phantasie mag dahingestellt bleiben. Aber ein Wort zum Thema Gewalt muss noch erlaubt sein.

Alleine die klimabedingte Hitzewelle des Sommers 2022 verursachte, wie Stefan Rahmstorf in einem Beitrag für den „Spiegel“[2] zeigte, mehr als 100.000 vorzeitige Todesfälle in Europa. Die entscheidende Ursache dafür ist der ungebremste Ausstoß von Treibhausgasen, nicht zuletzt durch Braunkohlekraftwerke, nicht zuletzt auch durch die Verhinderung von Tempolimits in Deutschland – ein Herzensanliegen der FDP. Hier wäre es wahrlich angebracht, sich über die Gefährdung von Menschenleben zu ereifern. Auf globaler Ebene werden die kleinen Inseln und die fruchtbaren, dichtbevölkerten Flussdeltas keine Chance gegen den Meeresspiegelanstieg haben. Hier wäre es wahrlich angebracht, eine Gewalt-Diskussion zu führen. Und das sind nur zwei von hunderten Aspekten der Klima-Gewalt, über deren wissenschaftlichen Nachweis sich die Landtagsabgeordneten bei „Ende Gelände“, „Extinction Rebellion“ oder der „Letzten Generation“ unterrichten könnten, wenn sie wollten. Wenn sie bereit wären, sich ihrer eigenen Mitverantwortung an dieser Gewalt zu stellen.

Aber auf die Gewaltsamkeit der menschengemachten Erderhitzung hinzuweisen, das ist eine radikale Position, also in der Logik der NRW-FDP nicht tolerierbar. Lieber Augen zu und immer darauf achten, dass „unsere Industrie im internationalen [sic] wettbewerbsfähig bleibt“ (4).

 

 

[1]            Landtagsdrucksache 18/1671, https://opal.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD18-1671.pdf. Ziffern in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen in diesem Dokument.

[2]             https://www.spiegel.de/wissenschaft/klimawandel-erhoeht-sterblichkeit-in-europa-100-000-tote-zusaetzlich-im-sommer-2022-a-49651597-e247-4b4d-ab76-41469994554f 

Titelbild: Flagge der FDP in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts (CC 0). Eine in NRW jetzt wieder angemessene Symbolik?