Befindet sich Deutschland auf einem 1,5°C-Pfad?
Unsere Frage bei "Europe Calling"
Am 10. Mai 2022 fand das bisher größte Webinar der Reihe „Europe Calling“ zur Energiepolitik statt.[1] 3800 Teilnehmende hatten sich angemeldet. Die Staatssekretäre im Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK), Patrick Graichen und Oliver Krischer diskutierten mit der Ökonomin Claudia Kemfert über das „Osterpaket“. Acht Umweltschutz-Organisationen steuerten kurze Statements bei, die von den Expert*innen beantwortet werden sollten. Dazu gehörte auch der SFV.
Wir stellten in einem Video-Statement die Frage, aufgrund welcher Zahlen die Bundesregierung zu der Behauptung gelangt, sie befinde sich mit den derzeitigen Planungen auf einem 1,5°C-Pfad. Nach den Berechnungen des IPCC (des „Weltklimarats“) stünden Deutschland noch 4 Gigatonnen (Gt) CO2-Ausstoß zu, gemessen an der Bevölkerungszahl. Die Pläne der Bundesregierung liefen aber auf eine Emission von mehr als 10 Gt hinaus.
Die Antwort von Staatssekretär Graichen auf unsere Frage war erstaunlich: Er äußerte, man könne das global angenommene Emissionsbudget eben nicht einfach nach Einwohnerzahl auf die einzelnen Staaten umlegen. Deutschland müsse als Industrienation andere Standards anlegen; die Regierung beziehe sich dabei auf die 1,5°-Szenarien der Internationalen Energie-Agentur (IEA).
Der IEA? Dieser von den OECD-Staaten gegründete Verein ist berüchtigt dafür, dass er seit Jahrzehnten in seinen Prognosen, die er im jährlichen “World Energy Outlook“ vorträgt, die Potenziale der Erneuerbaren Energien in geradezu grotesker Weise kleinredet. So erwartete er 2008 für das Jahr 2030 eine globale PV-Leistung von 200 GW; 2017 lag der tatsächliche Wert jedoch bereits bei über 400 GW.[2] Im aktuellen “World Energy Outlook“ geht die IEA großzügig von einem Anfang 2020 verbliebenen Emissions-Budget von 500 Gt aus, was laut IPCC die 1,5°C-Grenze nur mit 50%iger Wahrscheinlichkeit einzuhalten erlaubt.[3] Die dadurch erst für 2050 angestrebten Netto-Null-Emissionen sollen zum großen Teil durch CDR-Techniken (Carbon Dioxide Removal) erreicht werden (im Jahr 2050 im Umfang von 7,6 Gt[4]), während weiter in großem Umfang fossile Brennstoffe verbrannt werden. Für die Erneuerbaren Energien wird im Jahr 2050 ein globaler Anteil an der Energieerzeugung von nur 67 Prozent angenommen (zuzüglich stolzer 11% Atomkraft).[5]
Das ist also die Szenario-Quelle, auf welche sich unsere neue Bundesregierung beruft? Da kann einem schon etwas mulmig werden.
Tatsächlich stimmt Graichens Antwort, wenn man sie gegen den Strich bürstet. Wenn man das globale Emissionsbudget des IPCC für eine 67%ige Einhaltung der 1,5°-Grenze (400 Gt ab Anfang 2020) auf die Bevölkerung der einzelnen Länder herunterbricht, begeht man zwei Ungerechtigkeiten: Erstens blendet man die ökonomischen Möglichkeiten der verschiedenen Volkswirtschaften aus. Ein wohlhabendes Land kann sehr viel leichter in den Umbau seiner Energieversorgung investieren als ein ärmeres; Deutschland also z.B. besser als Polen. Zweitens hat dieser Wohlstand Ursachen, die durchaus mit der Geschichte des fossilen Systems zusammenhängen; Deutschland hat von allen fossilen Emissionen, die seit der Industriellen Revolution von Menschen verursacht wurden, einen Anteil von etwa 5,7%.[6] Dieser „historische Rucksack“ gebietet im Sinne der „Climate Justice“, dass das verbleibende Budget für Deutschland viel kleiner sein müsste als das eines vergleichbar bevölkerungsreichen Landes im globalen Süden. Denn aus den Sünden der Vergangenheit kann doch nicht ein Recht abgeleitet werden, fröhlich weiter sündigen zu dürfen.
Damit soll nicht gesagt werden, dass es irgendeinem Land erspart werden kann, möglichst schnell auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe zu verzichten. Aber für Deutschland noch eine Sonderportion vom Emissions-Kuchen zu reklamieren, ist weder ökonomisch noch moralisch zu rechtfertigen. Von solchen Gedanken sollte die Bundesregierung sich möglichst rasch verabschieden.
Frau Kemfert beantwortete unsere Frage übrigens zustimmend. Deutschland liege mit den Plänen der Bundesregierung keineswegs auf einem 1,5°C-Pfad. „Ja, es geht um Praktikabilität“, räumte sie gegenüber der Regierung ein, „aber es geht auch um wissenschaftliche Redlichkeit.“ Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), für das Frau Kemfert als Leiterin der Energieabteilung tätig ist, arbeitet derzeit an einem Gutachten, das ein „Update der Budget-Berechnungen“ enthält und aus dem hervorgeht, dass Deutschland den 1,5°C-Pfad klar verfehlt. Dieses Gutachten erwarten wir mit Spannung!
Unsere Frage zur Berechnungsgrundlage der Regierung, Deutschland befinde sich auf einem 1,5°C-Pfad, haben wir auch in ausführlicherer Briefform ans BMWK gerichtet und gleichzeitig auf der Auskunfts-Plattform „Frag den Staat“ eingereicht. Auch hier erwarten wir mit Spannung die Antworten. Es handelt sich nämlich nicht nur um eine Frage der wissenschaftlichen Redlichkeit, sondern sie hat auch unmittelbar rechtliche Konsequenzen. Denn die 1,5°C-Grenze wurde 2021 vom Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über die SFV-Verfassungsklage ausdrücklich in Verfassungsrang erhoben.[7]
[1] Die gesamte Veranstaltung ist nachträglich unter https://www.youtube.com/watch?v=j6RHz5PMnYk veröffentlicht.
[2] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale_Energieagentur mit weiteren Nachweisen.
[3] IEA, World Energy Outlook 2021, S. 110; https://iea.blob.core.windows.net/assets/4ed140c1-c3f3-4fd9-acae-789a4e14a23c/WorldEnergyOutlook2021.pdf
[4] https://www.iea.org/reports/world-energy-outlook-2021/keeping-the-door-to-15-0c-open
[5] IEA, World Energy Outlook 2021, S. 309, Tabelle „World Energy Supply, Net Zero Emissions by 2050 Scenario”.
[6] Vgl. Z.B. https://taz.de/CO2-Emissionen-historisch/!5714914/
[7] BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 – 1 BvR 2656/18 – Rn. 242; https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html