Die Zeiten sind vorbei, in denen die Grünen an der Spitze der Umweltbewegung marschierten und dort die Meinungsführerschaft beanspruchen durften. Während ihrer Regierungsbeteiligung in der rot-grünen Koalition mussten sie wegen ihrer geringeren Stimmenzahl immer wieder zurückstecken und Kompromisse eingehen. Ihr Fehler war, dass sie diese Kompromisse öffentlich als Erfolge verkauft haben, ohne auf ihre weitergehenden Forderungen hinzuweisen. Halbherzigkeit wurde parteiintern als „Realismus“ gepriesen, konsequentes Beharren auf ökologisch unverzichtbaren Forderungen als „Fundamentalismus“ abgetan. Die Folge ist Enttäuschung unter der grünen Stammwählerschaft. Andere Parteien übernehmen - vorerst nur langsam, aber doch zunehmend - ehemals grüne Positionen.

Mit dem Ziel, ihrer Partei wieder zur Meinungsführerschaft zu verhelfen, haben nun Reinhard Loske und einige seiner Parteifreunde rechtzeitig zur Bundesdelegiertenkonferenz in Köln ein Grundsatzpapier „Für einen neuen Realismus in der Ökologiepolitik“ verfasst, aus dem wir hier Auszüge veröffentlichen:

Auszug aus dem Grundsatzpapier „Für einen neuen Realismus in der Ökologiepolitik“,

Quelle: neuer_realismus_langfassung.pdf

„Die Grünen werden nur gebraucht, wenn sie die Bewahrung der Schöpfung konsequent zum Ausgangspunkt ihrer Politik machen.

Seit die moderne Ökologiebewegung existiert, begleitet sie der Vorwurf, einen Hang zum Alarmismus und zur Überzeichnung von Umweltproblemen zu haben. Ob Rachel Carson den „stummen Frühling“ heraufziehen sah oder der Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ prophezeite, ob Forstleute vor dem Waldsterben, Biologen vor dem Artenschwund, Bürgerinitiativen vor der Mülllawine, Gewässerschützer vor Flüssen ohne Leben oder Atmosphärenforscher vor dem Abbau der Ozonschicht warnten, stets schlug ihnen ein Chor mit immergleicher Melodie entgegen: Es mangele an Beweisen, hieß es hier; das sei nun einmal der Preis des Wohlstands, meinte man dort. Und selten fehlte die Behauptung, ein Verlassen des gewohnten Pfades koste Geld, Wirtschaftskraft und Arbeitsplätze.

Man mag darüber streiten, ob die Beschwörung drohender Umweltkatastrophen in der Vergangenheit nicht hier und da eine zu hohe Tonlage hatte. Schließlich kann es nicht ewig „fünf vor zwölf“ sein. Fakt ist aber, dass realistische Negativprognosen oft erst die Bedingungen für politisches Handeln geschaffen haben: Das Ultragift DDT ist heute ebenso verboten wie der Ozonkiller FCKW, die Entschwefelung von Großfeuerungsanlagen wurde ebenso vorangetrieben wie der Bau von Kläranlagen, die Wiederverwertung von Abfällen oder die Ausweisung von Naturschutzgebieten. Gewiss, viele der Maßnahmen waren und sind unzureichend, eher Schadensreparatur und Kurieren an Symptomen als wirkliche Vorsorge, jedenfalls weit weg vom Notwendigen. Dennoch wurde mancher umweltpolitische Erfolg erzielt. Vor allem die deutlich sichtbaren Probleme mit kurzen Ursache-Wirkungs-Ketten sind zurückgegangen. Diese Erfolge wären ohne starke Ökologiebewegung, kritische Forschung und erfolgreiche Grüne nicht möglich gewesen. Daraus lässt sich Selbstvertrauen ziehen.

Heute aber stehen wir vor einem Paradox: Die Konturen der wirklich großen und potenziell katastrophalen Umweltprobleme, vor allem des Klimawandels und all seiner Folgen, werden immer deutlicher. Gleichzeitig aber geraten Strategien eines weitergehenden ökologischen Strukturwandels, einer wirklich nachhaltigen Entwicklung politisch in die Defensive. Es sei doch alles gar nicht so schlimm gekommen wie prophezeit, posaunen „Ökooptimisten“ in die Welt und beglücken mit ihren Frohmutsphrasen all jene, denen anspruchsvolle Umweltziele ohnehin lästig sind. Im politischen Mainstream wird einfühlsam davon geredet, dass für den Umweltschutz ja viel getan worden sei, vielleicht sogar zu viel, weshalb dieser nun auf ein „realistisches Maߓ zurückgeführt und entbürokratisiert werden müsse. Beliebt ist auch die Behauptung, andere Länder täten auf dem Felde der Ökologie weit weniger als wir, weshalb eine „Vorreiterrolle“ sich zum handfesten Wettbewerbsnachteil, ja sogar zur Standortschwächung auswachse und ergo zu beenden sei. (...)

Klimawandel als hartes Thema

In weiten Teilen unserer Gesellschaft herrscht noch immer die Wahrnehmung vor, Ökologie sei eine Art Wohlstandsthema, das man sich leisten könne, wenn die wirtschaftliche Situation es zulässt. Das ist falsch. Die Gratisleistungen, die uns von der Natur gewährt werden, ein stabiles Klima, produktive Böden, gutes Wasser, saubere Luft und biologische Vielfalt, bilden die Grundlagen unserer Existenz, sind das Fundament, auf dem unsere Zivilisation und unsere Kultur fußen. Erodiert dieses Fundament, ist auch mit harten Konsequenzen für uns Menschen zu rechnen – bis hin zum Systemkollaps. Dieser Zusammenhang lässt sich am deutlichsten anhand des drohenden Klimawandels verdeutlichen.

Im menschgemachten Treibhauseffekt spiegeln sich die allermeisten Fehlentwicklungen der modernen Zivilisation: die exzessive Verbrennung von Kohle, Öl und Gas in Häusern, Autos, Kraftwerken und Fabriken, also die Umwandlung von gespeichertem Kohlenstoff in klimaschädliches Kohlendioxid, die Rohstoffgewinnung und die Industrialisierung mit ihren hohen Energieverbräuchen, die Intensivierung und Chemisierung der Landwirtschaft, die Massentierhaltung und der hohe Fleischverbrauch und die Umwandlung von Wald und Buschland in Weide- und Ackerland. Die drohende Klimakatastophe ist deshalb so etwas wie die „Summe aller Fehler“. Diese Fehler, die vor allem in den Industriestaaten begangen wurden und werden, werden nun von den Entwicklungsländern kopiert, allen voran von China, Indien und Brasilien – mit verheerenden Folgen für unsere Erde.

Die menschgemachte Klimaänderung ist keine abstrakte Bedrohung in ferner Zukunft mehr. Sie hat längst begonnen und vollzieht sich schneller als Wissenschaftler noch vor fünf Jahren vermutet haben. Die neun wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnung im Jahre 1861 liegen zwischen 1995 und 2005, darunter jedes Jahr seit 2001. Das Jahr 2005 war das bisher wärmste – und ein Jahr vieler weiterer „Rekorde“: Es gab 27 tropische Stürme über dem Atlantik, davon 15 mit der Stärke eines Hurrikans, „Wilma“ war der stärkste, der jemals gemessen wurde, „Katrina“ verursachte die höchsten Folgekosten, die jemals anfielen, und mit „Vince“ und „Delta“ erreichten tropische Wirbelstürme erstmals Europa. 2005 trat zudem die schlimmste Dürre seit mehr als sechzig Jahren im Amazonasbecken auf, es gab starke Überschwemmungen in Mitteleuropa und in den Alpen und Waldbrände in Südeuropa. Die Gletscher der Anden, der Rocky Mountains, des Himalaja, der Alpen und des Kilimandscharo sind in den letzten Jahren in rasender Geschwindigkeit geschrumpft. Bereits 85 Prozent aller Gletscher sind hiervon betroffen. Dies wird dramatische Folgen für die großen Flüsse, die menschliche Wasserversorgung und die Landwirtschaft haben. Vor allem in den großen Metropolen Asiens werden Engpässe in der Trinkwasserversorgung zu einem großen Problem werden. In weiten Teilen Afrikas ist mit einem weiteren Rückgang von Niederschlägen, also einer Ausbreitung der Wüsten, dem Schrumpfen von Süßwasserreservoiren und armutsbedingten Völkerwanderungen zu rechnen. Die Ankunft von afrikanischen Flüchtlingen an Europas Küsten wird auch durch diese Entwicklung zunehmen. Lang ist die Reihe der wissenschaftlich beschriebenen Folgen des menschgemachten Klimawandels. Sie umfasst das Auftauen der Permafrostböden in den hohen nördlichen Breiten, die Bedrohung der biologischen Vielfalt in sehr vielen Lebensraumtypen, die Ausbreitung von wärmeliebenden Krankheitsüberträgern wie Moskitos, Zecken oder Tsetsefliegen, das Korallensterben und die Algenblüte durch eine Erwärmung der Weltmeere, die Unterbrechung der ozeanischen Pumpe, die Westeuropa heute noch ein mildes Klima beschert, oder den Anstieg des Meeresspiegels mit seinen verheerenden Folgen für menschliche Siedlungen, küstennahe Infrastrukturen und landwirtschaftliche Nutzflächen. Mit einem „Weiter wie bisher“ drohen weltweit katastrophale Folgen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn die globale Erwärmung die Marke von 2 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Temperaturniveau überschreitet, etwa 0,8 Grad Celsius sind in den letzten einhundert Jahren bereits eingetreten, droht das unumkehrbare Abschmelzen der polaren Eismassen in Grönland und der Antarktis, verbunden mit einem Meeresspiegelanstieg um mehrere Meter, wenn auch verteilt über einen längeren Zeitraum. Dann könnten auch einmalige Ökosysteme absterben, etwa der Amazonas-Regenwald mit seiner einzigartigen Tier- und Pflanzenwelt. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen lässt sich der drohende Klimawandel nicht mehr als weiches Thema behandeln. Wenn, wie üblich, als „hart“ die Fragen des wirtschaftlichen Wohlstandes und der globalen Sicherheit bezeichnet werden, dann ist er sogar ein sehr hartes Thema. Er ist wahrscheinlich sogar das Thema, das die Menschheit in wenigen Jahrzehnten mehr bedrücken wird als jedes andere, wenn nicht endlich konsequent gehandelt wird. Nimmt man die Prognosen der Klimaforschung ernst, sind die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre für ein Umsteuern entscheidend. Wir schlagen deshalb vor, dass die Grünen als Partei der Ökologie den Klimaschutz konsequent in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen und alle Politikfelder systematisch an diesem Ziel ausrichten. (...)“

Und die Konsequenzen?

Das bis hier zitierte Grundsatzpapier von Reinhard Loske u.a. ist ein sehr beeindruckender Text, soweit es um eine Diagnose der gegenwärtigen Situation geht. In den geforderten Konsequenzen allerdings bleibt es eher vage. Die Konsequenzen sind es jedoch, auf die es ankommt und mit Spannung wartete die Öffentlichkeit auf das Ergebnis der Bundesdelegiertenkonferenz in Köln. Dort kam es dann zum Count-Down.

Hans-Josef Fell, mutiger und unermüdlicher Kämpfer für den Umstieg auf Erneuerbare Energien beantragte eine Festlegung der Grünen auf eine konsequente Verweigerung beim Neubau fossiler Kraftwerke. „Eine vollständige Null-Emissions-Strategie ist möglich, und zwar viel schneller und kostengünstiger als viele glauben“, argumentierte er. „Wir brauchen Lösungen - und keine Problemverringerung.“ Den „Umweg über fossile Energietechnik“, betonte er, „müssen wir auf dem Pfad ins Solarzeitalter nicht nehmen“.

Ausgerechnet Reinhard Loske aber, der die vorerwähnte glänzende Diagnose der Gesamtsituation angestellt hatte, verweigerte die Zustimmung zu der Fell‘schen Variante: Er lehne Fells Vorschlag ab, weil er grünen Kommunalpolitikern künftig nicht die Wahl zwischen alten, ineffektiven und modernen, effektiven Kraftwerken nehmen wolle. Einer der Befürworter von modernen Gaskraftwerken beschimpfte Fell sogar als Fundamentalist (wofür er sich nach der Abstimmung entschuldigte).

(Anmerkung des SFV: Den Neubau von fossilen Kraftwerken sollen und können nicht die Kommunalpolitiker verhindern, sondern dazu wird eine bundesgesetzliche Regelung benötigt. Es geht darum, die Privilegierung der fossilen Kraftwerke in den verschiedensten Bundesgesetzen zu beseitigen und diese Privilegien stattdessen in vollem Umfang auf Windanlagen und alle Anlagen der Erneuerbaren Energien zu übertragen.)

Es kam zu einer erregten Diskussion. Hans-Josef Fell erzielte in den Abstimmungen leider nur einen Teilerfolg. Der Neubau von Kohlekraftwerken wurde zwar abgelehnt. Der Neubau von Gaskraftwerken soll jedoch weiter gestattet sein.

„Bündnis 90/Die Grünen werden als Partei der Ökologie den Klimaschutz konsequent in den Mittelpunkt ihrer Politik stellen und alle Politikfelder systematisch an diesem Ziel ausrichten", heißt es nun zu Beginn des angenommenen Leitantrags zur Umweltpolitik. Doch schöne Worte reichen nicht mehr. Die Wähler erwarten konsequente Vorschläge. Die Tatsache, dass die anderen Parteien in ihrer Umweltpolitik noch weniger fordern, wird den Grünen nicht viel helfen.

Hans-Josef Fell versicherte auf Nachfrage des SFV, er werde weiter Überzeugungsarbeit unter seinen Parteifreunden für Nullemissionen leisten. Sein Ziel seien weiterhin 100% Erneuerbare Energien noch vor der Mitte des Jahrhunderts.