Doch der Reihe nach: Im emsländischen Lingen befindet sich in Niedersachsen direkt neben dem AKW Emsland die bundesweit einzige Brennelementefabrik, die vom französischen Atomkonzern Areva betrieben wird. Wenige Kilometer weiter südlich befindet sich im münsterländischen Gronau am Nordrand von NRW die bundesweit einzige Urananreicherungsanlage, die zum internationalen Urenco-Konzern gehört Miteigentümer sind EON und RWE.
Brennelemente aus Lingen für Doel und Tihange
Der Fall Lingen: Die Areva-Tochter ANF (Advanced Nuclear Fuels) beliefert nach Auskunft des neuen Bundesamtes für kerntechnische Entsorgungssicherheit (BfE, früher BfS) schon seit mehr als 20 Jahren die Reaktoren Doel 1 und 2 bei Antwerpen mit Brennelementen aus dem Emsland. Die von Verlusten und Skandalen gebeutelte und vor der Aufspaltung stehende Areva sucht aufgrund gesunkener Auslastung der Uranfabrik in Lingen händeringend neue Kunden. Ein brisanter Deal aus dem letzten Jahr ist das Ergebnis: Während Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) noch im April 2016 aufgrund von gravierenden Sicherheitsbedenken öffentlich die zumindest vorübergehende Stilllegung von Doel 3 und Tihange 2 fordert, werden in ihrem eigenen Haus zwei heikle Ausfuhrgenehmigungen des in Atomfragen unterstellten Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) durchgewunken. Areva erhält erstmals neben einem neuen Brennelementeauftrag für Doel 1 und 2 auch den Zuschlag für die Belieferung von Doel 3 und Tihange 2! Damit ist der Skandal perfekt, denn wie kann die Bundesumweltministerin gleichzeitig die Stilllegung der AKWs fordern, aber zugleich die Belieferung mit frischen Brennelementen bewilligen? Doch Hendricks lässt selbst nach der Aufdeckung der Brennelementlieferungen für Tihange 2 Ende März 2017 jede Kritik abprallen wie so oft sagt sie nur, ihr seien leider, leider die Hände gebunden.
Stimmt das wirklich? Im Juli 2016 veröffentlicht die Ärzteorganisation IPPNW ein Gutachten der angesehenen Umweltjuristin Cornelia Ziehm, in dem diese nachweist, dass selbst nach dem geltenden Atomgesetz die Ausfuhr von Brennelementen an die Hochrisikoreaktoren in Doel untersagt werden kann und muss, da laut Atomgesetz gewährleistet sein muss, "dass die auszuführenden Kernbrennstoffe nicht in einer ( ) die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdenden Weise verwendet werden." Bei einem etwaigen Super-GAU in Tihange oder Antwerpen wäre dies aber unbestreitbar der Fall. Was aber macht Ministerin Hendricks? Anstatt die Exporte zu stoppen, versuchte sie sich im Winter rechtlich per Gutachten bescheinigen zu lassen, dass die Brennelementlieferungen von Lingen nach Doel trotz aller selbst formulierter Sicherheitsbedenken in Ordnung seien. Kein Wunder, dass Anti-Atomkraft-Initiativen in NRW und Niedersachsen empört sind über soviel Sturheit.
Uran aus Gronau für Belgien
Auch aus NRW landet Uran in Belgien, wie Recherchen von Anti-Atomkraft-Initiativen im Februar 2016 belegten:
a) Weg 1 führt von Gronau zur Brennelementefabrik nach Lingen und von dort wie oben beschrieben nach Doel 1, 2 und 3 sowie aktuell auch nach Tihange 2.
b) Weg 2 führt von Gronau zur Westinghouse-Brennelementefabrik in Columbia/USA. Diese beliefert nach eigenen Angaben die belgischen AKW Tihange 2 und Doel 4.
c) Weg 3 führt von Gronau zur Westinghouse-Urananlage Springfields in Großbritannien. Von dort wiederum gelangt das angereicherte Uran u. a. zur Enusa-Brennelementefabrik in Juzbado/Spanien. Enusa kooperiert mit Westinghouse und nutzt nach eigenen Angaben das Uran aus Springfields für Brennelementlieferungen an die AKW Tihange 3 und Doel 4.
Angesprochen auf diese Recherchen, gab der Chef von Urenco Deutschland, Joachim Ohnemus, im WDR-Landesmagazin Westpol am 13. März 2016 unumwunden zu, dass die belgischen AKW-Betreiber Urenco-Kunden sind.
Urananreicherung und Brennelementeproduktion beenden
Die Recherchen zeigen zudem sehr anschaulich, wie verschlungen und wie international die Lieferwege für den AKW-Brennstoff sind. Für NRW und die hiesige Landesregierung sind die Recherchen noch aus einem anderen Grund brisant: Eigentlich steht die Urananreicherungsanlage Gronau laut den rot-grünen Koalitionsverträgen von 2010 und 2012 längst auf dem politischen Abstellgleis. "Wir wollen die Urananreicherung in Gronau rechtssicher beenden," heißt es unmissverständlich. Doch getan hat sich bislang nicht viel. Dabei beliefert Urenco neben Belgien auch Frankreich sowie seit 2016 die Altreaktoren der Ukraine und bis 2011 stand der Fukushima-Betreiber Tepco auf der Kundenliste.
2016 trat die NRW-Landesregierung jedoch der Klage zur Stilllegung von Tihange 2 bei und da kam die Aufdeckung der Uran-Belieferung von eben diesem Reaktor durch Atomanlage in NRW und Niedersachsen äußerst ungelegen. NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) organisierte daraufhin im Juni 2016 einen einstimmigen Beschluss der Landesumweltminister, sowohl die Urananreicherung wie auch die Brennelementefertigung endlich in das deutsche Atomausstiegsgesetz aufzunehmen.
Ein erstes Ergebnis war, dass Bundesumweltministerin Hendricks im Sommer 2016 überraschend die NRW-Landesregierung zu Gesprächen über eine mögliche Stilllegung der UAA in Gronau einlud. Aktuell lässt die Ministerin nun per Gutachten die Wege zur möglichen Stilllegung von Gronau und Lingen prüfen, Ergebnisse sollen im Mai vorliegen. Ob dies ein Placebo-Gutachten in Wahlkampfzeiten wird oder ob es sich tatsächlich um den ersten Schritt zur Stilllegung der Urananreicherungsanlage handelt, ist noch nicht abzusehen.
Sicher ist hingegen, dass die Aufdeckung der Brennelementexporte von Lingen nach Tihange 2 Anfang April zu einer erstaunlichen Ad-Hoc-Koalition im NRW-Landtag führte. Alle Parteien inklusive SPD, CDU und FDP forderten plötzlich ein Ende der Brennelementexporte. Bei einer solchen Parteienphalanx müsste es eigentlich ganz einfach sein, in der Großen Koalition in Berlin schnell aktiv zu werden, da auch Umweltministerin Hendricks aus NRW kommt, während der CDU-Landesvorsitzende Laschet genau wie Ministerpräsidentin Kraft zugleich stellvertretende Bundesvorsitzende ihrer jeweiligen Partei sind. Doch ohne weiteren öffentlichen Druck versuchen sich alle Parteien irgendwie über den Wahlsommer zu retten, ohne konkret etwas zu ändern.
Die Proteste auf der Straße gehen also unvermindert weiter. So fand am Karfreitag in Gronau und Jülich der diesjährige Ostermarsch auch gegen die Uranexporte nach Belgien statt. Auch am Atomstandort Lingen gehen die Proteste nach der internationalen Demo im letzten Herbst weiter am 9. September wird es zwei Wochen vor der Bundestagswahl erneut eine überregionale und internationale Demo für den Atomausstieg geben. Und nicht zu vergessen: Am 25. Juni wird die internationale Menschenkette von Aachen über Maastricht und Lüttich bis nach Tihange den Widerstand gegen die Atomenergie massenhaft auf die Straße bringen. Denn für die Anti-Atomkraft-Initiativen ist klar: Wer wirklich aus der Atomenergie aussteigen will, darf auch keinen Uranbrennstoff für Pannenreaktoren in unserer Nachbarschaft oder darüber hinaus exportieren.
Zum Autor:
Matthias Eickhoff ist seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in der Anti-Atom-Bewegung aktiv und ist einer der Sprecher des Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen. Der Politologe und Journalist arbeitet in dem regionalen Netzwerk seit langem intensiv zu den Atomanlagen in Gronau und Lingen.