Leitartikel

Seit Jahren wurden von der Partei BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN im Energiebereich fortschrittliche Forderungen gestellt: Sofortiger Ausstieg aus der Atomenergie, schrittweise Erhöhung des Spritpreises auf 5 DM, Tempo 100 auf Autobahnen, autofreie Innenstädte, Ausstieg aus der Braunkohle, fortgesetzte jährliche Verteuerung der konventionellen elektrischen Energie, Einstieg in die Solarenergienutzung, kostendeckende Vergütung für Solarstrom... Aus diesen Forderungen ergab sich die gegenseitige Wertschätzung zwischen dieser Partei und den Umweltgruppen.

Nun sind die Grünen an der Regierung und versuchen ihr Bestes. Doch welche Chancen haben sie dort? Bei einer Minderheit 1 : 7 haben grüne Ökologievorstellungen im Bundes-Kabinett nur wenig Aussicht, und der kleine Koalitionspartner muß Disziplin wahren, auch bei Entscheidungen, die jedem grünen Grundverständnis Hohn sprechen. Wer wollte es denn bei einer Minderheit von 1 : 7 besser machen?

Den Grünen jetzt vorzuwerfen, die Ökologie wäre ihnen gleichgültig geworden, beweist wenig Realitätssinn. Im persönlichen Gespräch mit ihren Vertretern zeigt sich auch die Unhaltbarkeit eines solchen Verdachts.

Auch der Vorwurf, die Grünen hätten in der Sache zu wenig erreicht, ist unberechtigt. Erinnern wir uns doch nur einige Monate zurück: Die Alternative hieß am 27. September 1998 abends nicht: Ausstieg aus der Atomenergie sofort oder in 20 Jahren. Die Alternative am Wahlabend lautete vielmehr: Große Koalition und weiter wie bisher, oder kleine Schritte in Richtung Ökologie. Was haben wir denn damals erwartet? Kurz gesagt, ich sehe in dieser Hinsicht keinen Anlaß für empörte Vorwürfe.

Doch zwei andere Vorwürfe scheinen mir berechtigt: In einem etwas verqueren Disziplinverständnis halten die Grünen in der Öffentlichkeit alle ihre fortschrittlichen Forderungen zurück. Grüne tun jetzt so, als wäre Tempo 130 auf Autobahnen und eine Erhöhung des Benzinpreises um 6 Pfennig ein großes Ziel, der Ausstieg aus der Atomenergie in vielleicht 20 Jahren ein Erfolg...

Es ist keine Schande, bei einem Zahlenverhältnis 1 : 7 zu unterliegen, aber es ist kläglich, dann so zu tun, als hätte man keine höheren Ziele gehabt. Insbesondere ist es strategisch unklug, seine fortschrittlichen Forderungen zurückzunehmen oder sie zu verschweigen. So erwecken die Grünen in der Öffentlichkeit den verheerenden Eindruck, um der Beteiligung an der Macht willen hätten sie ihre Ziele verraten, und so verlieren sie ihre Sympathisanten und Wähler. Gerade junge Menschen erwarten vollen Einsatz für eine gute Sache.

Speziell zum sofortigen Atomausstieg ergibt sich ein weiteres, ein argumentatives Problem für die Grünen. Zwar sind alle Grünen für den Ausstieg, aber was dann kommen soll, darüber gibt es eher unklare Vorstellungen. Es sind erst wenige Mitglieder dieser Partei davon überzeugt, daß es außer Energiesparen überhaupt noch andere Alternativen gibt. Die Sonnenenergie liebt man/frau - natürlich! - aber eher wie ein niedliches Kuscheltier, gerade weil sie klein ist. Kaum jemand aber traut ihr zu, daß sie eine echte Alternative sein könnte. Aus dieser Uninformiertheit, die von der Stromwirtschaft nach Kräften gefördert wird, erwächst Ratlosigkeit. So sind einige Mitglieder dieser Partei anscheinend gar nicht so unglücklich darüber, daß der Ausstieg auf 20 oder mehr Jahre hinausgezögert wird.

Hier wartet eine große Aufgabe auf uns. Die traditionell guten Beziehungen zu den Grünen sollten die Energieverbände nutzen, die Möglichkeit einer vollständigen Energiewende ins Bewußtsein zu bringen. Die auf Seite 7 kurz angerissene europäische Studie „Sustainable Energy Scenario for Europe" kann uns dabei eine große Hilfe sein.

Wir helfen den Ökofreunden in der Regierung nicht, wenn wir jetzt ihre spärlichen Erfolge bejubeln. Im Gegenteil, nur wenn wir unbeirrt unsere weitergehenden berechtigten und realisierbaren Forderungen öffentlich stellen, haben die Ökofreunde im Kabinett überhaupt eine Chance!

Fortschrittliche Forderungen im Energiebereich müssen aber zukünftig nicht nur durch die Umweltgruppen und kleinen Öko-Parteien formuliert und vertreten werden, sondern auch wieder durch die Grünen selber.

Mit freundlichen Grüßen

W. v. Fabeck