Datum: 27.11.2002

Die ökologischen Strukturfehler unseres Wirtschaftssystems


Fehlerhafte Ansätze der Wirtschaftstheorien als Ursache verfehlter Wirtschaftspolitik

Von Jürgen Grahl

Der Erfolg der Umweltbewegung wird letztlich wohl entscheidend davon abhängen, ob es ihr gelingt, Politik und Gesellschaft davon zu überzeugen, dass Ökologie und Ökonomie keine Gegensätze bilden, dass der angebliche Zielkonflikt zwischen Wohlstand und Umweltschutz vielmehr das Resultat einer kurzsichtigen und einseitigen Betrachtungsweise ist. Daher ist es unerlässlich, sich mit den Aporien der konventionellen Wirtschaftstheorie zu beschäftigen, mit jenen Unehrlichkeiten und Irrationalitäten, die es möglich machen, Umweltzerstörung als wirtschaftlich sinnvoll zu verbrämen. Der vorliegende Artikel versucht, die wichtigsten Argumente in Kürze zusammenzustellen

1. Missachtung des Naturkapitals

Noch immer gilt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) (früher das Bruttosozialprodukt, BSP) als hauptsächlicher Indikator des Wohlstands einer Volkswirtschaft. Dessen Aussagekraft ist jedoch höchst fragwürdig: So tragen Verkehrsunfälle ebenso wie Umweltzerstörungen zur Steigerung des BIP bei. Ein Land, das seine Regenwälder abholzt, erhöht dadurch sein BIP, ohne dass der Verlust an Wald in irgendeiner Wirtschaftsbilanz auftauchen würde. Das Naturkapital wird (soweit es kostenfrei zur Verfügung steht) im BIP schlicht ignoriert. Die Folge ist, dass unser Wirtschaftssystem permanent vom Kapital, von der Substanz zehrt, statt sich mit den "Zinsen" der Natur zu begnügen; unser Wirtschaften ist oft ein bloßes Umschichten von monetär unbewerteten zu monetär bewerteten Gütern.

Kurzfristig führt solcher Raubbau zu höheren, aber einmaligen Einnahmen, langfristig jedoch zu entgangenen Erträgen. Besonders drastisch zeigt sich dies im verschwenderischen Umgang mit den fossilen Ressourcen, trotz aller Mahnungen vor dem baldigen Ende von Öl und Gas. Selbst die elementaren, schon in den Schulen verwendeten Modelle des Wirtschaftskreislaufes kranken daran, dass sie die Natur, die Quellen und Senken der Stoffströme in unserer Wirtschaft praktisch nicht berücksichtigen. Die Güter werden auf magische Weise quasi aus dem Nichts geschaffen und die Entsorgung der nicht mehr nutzbaren Reste wird - losgelöst von der Frage der technischen Durchführbarkeit - allenfalls als eine Aufgabe betrachtet, die zukünftigen Generationen überlassen bleibt und möglicherweise ihr BIP weiter steigert; Al Gore bezeichnet dies spöttisch als „moderne Alchimie“.

Wir müssten also das Bruttosozialprodukt durch ein Ökosozialprodukt ersetzen, in welchem die volkswirtschaftliche Wertschöpfung und die damit einhergehenden Verluste an Naturkapital gegeneinander aufgerechnet werden; dieses könnte dann zwar angesichts seiner ungleich höheren Komplexität nicht mehr so exakt und objektiv bestimmt werden wie das heutige BIP bzw. BSP, würde aber - und das ist erheblich wichtiger als scheinbare Genauigkeit - jedenfalls der Realität wesentlich näher kommen.

2. Die Ausblendung der externen Kosten

Ein weiteres schwerwiegendes Manko unseres Wirtschaftens besteht darin, dass wir all die volkswirtschaftlichen Schäden, die wir durch unsere umweltzerstörerische Wirtschaftsweise anrichten, aus unseren ökonomischen Betrachtungen verbannen indem wir sie in den Papierkorb der „externen Kosten“ werfen.

Obwohl der Begriff der Externen Kosten fast in aller Munde ist, werden keine ernsthaften Konsequenzen gezogen. Unsere heutige Ökonomie ignoriert immer noch weitgehend die Tatsache, dass eine Diskrepanz zwischen dem privaten und dem sozialen Nutzen einer wirtschaftlichen Handlung bestehen kann, so dass ihre Folgeschäden die Allgemeinheit (und/oder künftige Generationen) und nicht speziell den Verursacher (und Nutznießer!) belasten. Als Beispiele für externe Kosten zu nennen sind vor allem:

  • "Reparaturkosten": Kosten für die Beseitigung von Umweltzerstörungen, Mehrausgaben im Gesundheitssystem, Mehrkosten für aufgrund Klimaveränderungen gehäuft auftretende Naturkatastrophen.
  • Kosten, die aufgrund von Großrisiken wie Kernenergie und Gentechnik mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit auftreten werden, ohne durch eine Versicherung zu Lasten der Nutznießer abgedeckt zu sein. (Bei realistischer Versicherung nach den Regeln der Versicherungsmathematik würde Atomstrom bekanntlich 1,80 EUR pro kWh kosten; nach Angaben von Dr. Eberhard Moths (Bundesministerium für Wirtschaft) in der "Wirtschaftswoche" vom 06.11.1992, basierend auf der Prognose-Studie "Externe Kosten der Energieversorgung" von 1992.)
  • Kosten für staatlich geförderte technologische Entwicklungen, wie z.B. Kernspaltung und Kernfusion, die letztlich einem monopolartigem Wirtschaftszweig zugute kommen.
  • Subventionen , z.B. für den Steinkohlebergbau.
  • militärische Kosten zur Sicherung von Ölquellen u.ä. (Golfkrieg!). In den NATO-Vertrag soll zukünftig auch die Sicherung der Rohstoffversorgung aufgenommen werden.
  • staatliche Ausgaben zur Stützung des fossil-atomaren Energiesystems, z.B. Polizeieinsätze bei Castor-Transporten.

All diese externen (oder „sozialisierten“) Kosten bedeuten eine schleichende Enteignung der Allgemeinheit und eine zunehmende Einschränkung der finanziellen Spielräume des Staates. Hier liegt -neben mangelnder Ausgabendisziplin der Politiker - ein wesentlicher Grund für die Erosion der Staatsfinanzen.
Kennzeichnend für die Entwicklung gerade der letzten Jahre sind dabei zwei widersprüchliche Tendenzen: Einerseits werden dem Staat zunehmend lukrative Aufgaben durch Privatisierungen (z.B. Telekom, Post, Lufthansa) entzogen; anderseits werden jedoch immer mehr externe Kosten auf den Staat abgewälzt. Im Sinne einer nachhaltigen Wirtschaftspolitik müsste ein Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben hergestellt werden; dies würde eine Privatisierung nicht nur der lukrativen Aufgaben, sondern auch der Kosten und Risiken erfordern, doch die wird von den neoliberalen Vordenkern kategorisch abgelehnt. Durch diese Inkonsequenz entlarvt sich das den Zeitgeist dominierende neoliberalistische Denken als interessengeleiteter Versuch, den Staat und damit die Mehrheit seiner Bürger zugunsten der "Privatwirtschaft" - genauer gesagt zugunsten ihrer Kapitalgeber - gnadenlos auszuplündern.

Die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips auf die ökologischen Folgeschäden des Wirtschaftens gebietet die Internalisierung der externen Kosten. Dies ist die vermutlich bekannteste Begründung für die Notwendigkeit einer ökologischen Steuerreform.
Leider ist jedoch eine auch nur annähernde Bestimmung der externen Kosten, wie sie für eine Internalisierung wesentlich wäre, mit großen methodischen Problemen verbunden: Zum einen besteht eine prinzipielle Schwierigkeit darin, den Wert immaterieller Güter bzw. Belastungen monetär zu quantifizieren: Wie teuer sind uns Leben, Gesundheit, Frieden, Glück, Schönheit, Lebensqualität, wie teuer andererseits Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit, „Restrisiko“? Dass diese Werte in der Rechnung kurzerhand vernachlässigt werden, und nicht einmal der Versuch unternommen wird, sie in die Gesamtwertung einzubeziehen, wirkt wie Zynismus im Sinne von Oscar Wilde: „Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis kennt und von nichts den Wert.“

Zum anderen kann man zu stark variierenden Ergebnissen für die externen Kosten kommen, je nachdem welche Annahmen über die Wahrscheinlichkeit gewisser zukünftiger Entwicklungen und Ereignisse (z.B. Klimaveränderungen oder Kernschmelzunfälle) man zugrunde legt; insbesondere sind die zukünftigen Kosten des anthropogenen Treibhauseffekts geradezu unkalkulierbar.

So ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Versuche, die externen Kosten der Energienutzung abzuschätzen, zu stark differierenden Ergebnissen geführt haben. Hohmeyer (1994) gibt z. B. folgende Werte an

  • Fossile Brennstoffe: 41,40 bis 60,85 Pf/kWh
  • Kernenergie: 4,32 bis 26,06 Pf/kWh
  • Windenergie: 0,01 Pf/kWh
  • Photovoltaik: 0,44 Pf/kWh

Natürlich gibt es auch Studien, die wesentlich niedrigere Werte nennen, welche geradezu einer Ignorierung der externen Kosten gleichkommen. Ob es nur Zufall ist, dass sie zumeist von der Energiewirtschaft nahestehenden Wissenschaftlern stammen ... ?

3. Die Schieflage zwischen der Besteuerung von Energie und Arbeit

Noch heute gehen die bekannten Wirtschaftstheorien von Kapital und Arbeit (und Boden) als alleinigen Produktionsfaktoren aus. Die Nennung des Produktionsfaktors Boden berücksichtigte den Anteil, den Grundbesitz an der landwirtschaftlichen Produktion hatte. Das vielleicht schwerste Versäumnis der Wirtschaftstheorie ist die Nicht-Wahrnehmung - oder sollte man sagen, die Ausblendung - des Produktionsfaktors Energie und ihrem Anteil an der industriellen Produktion.
Dieses theoretische Versäumnis führt in seiner praktischen Folge dahin, dass Energie trotz ihrer Produktionsmächtigkeit nicht - oder zumindest völlig unzureichend - besteuert wird, während der über Jahrhunderte hinweg anerkannte Produktionsfaktor Arbeit völlig über Gebühr mit Steuern belastet wird. Energie trägt im Vergleich zur Arbeit fünf mal so viel zur Wertschöpfung in der deutschen Volkswirtschaft bei, wird aber im Vergleich zur Arbeit nur zu einem winzigen Bruchteil mit Steuern und Abgaben belastet.
Mit derartigen Rahmenbedingungen treibt der Staat die Unternehmen zur weiteren "Freisetzung" von Personal - eine Verhaltensweise, die er gerade vermeiden möchte. Nur wenige Politiker haben verstanden, dass nur ein Steuersystem Abhilfe schaffen kann, das eine allmähliche, aber konsequente Verschiebung der Hauptsteuerlast von der Arbeit hin zur Energie bewirkt, wie es die ökologische Steuerreform beabsichtigt. Dass diese Begründung für die Fortsetzung der ökologischen Steuerreform so unbekannt ist, mag mit daran liegen, dass die Wirtschaftstheorie die oben genannte Begründung erst liefern kann, wenn sie die Energie als selbständigen Produktionsfaktor anerkennt und sich seiner wahren Produktionsmächtigkeit bewusst wird.

4. Das Wachstumsdogma

Fast wie unter einem kollektiven Zwang wird von Politik, Gesellschaft und leider auch Wissenschaft noch immer ein fortgesetztes Wirtschaftswachstum als Garant, ja beinahe als Synonym für mehr Wohlstand und Beschäftigung angesehen. Die Sensibilität für die Fragwürdigkeit eines fortwährenden Wachstums ist nach wie vor erschreckend unterentwickelt.
Unter Wachstum versteht man dabei einen Zuwachs von einigen Prozent jährlich. Die Mathematik bezeichnet ein solches Wachstum als "exponentielles Wachstum". Die Dynamik und Dramatik exponentiellen Wachstums wird von Nichtmathematikern leider völlig unterschätzt. So bedeutet selbst eine - heute als moderat bzw. ungenügend geltende - jährliche Wachstumsrate von lediglich 2% eine Verdoppelung innerhalb von 35 Jahren, eine Verachtfachung nach 105 Jahren und nach 350 Jahren schließlich ein Anwachsen auf das Tausendfache des Ausgangsniveaus. Es ist daher eine unbestreitbare Tatsache, dass exponentielles Wachstum früher oder später zum Zusammenbruch führen muss - ob früher oder später, hängt im Wesentlichen von der Wachstumsrate ab.

Daher ist es dringend erforderlich, die Mechanismen aufzudecken, die unsere Wirtschaft zum permanenten Wachstum verdammen, die dazu führen, dass ein bloßes Absinken der Wachstumsrate auf z. B. 1 % - von einem Verharren auf konstantem Niveau ganz zu schweigen - bereits als Rezession bzw. Wirtschaftskrise empfunden wird.

Einer der Hauptmechanismen hängt aufs Engste mit der oben besprochenen Schieflage in der Besteuerung von Energie und Arbeit und der daraus folgenden fortlaufenden "Freisetzung" von Arbeitskräften zusammen. Damit diese an anderer Stelle unterkommen können und nicht das Heer der Arbeitslosen vergrößern, ist es notwendig, dass die Volkswirtschaft insgesamt ständig weiter expandiert.
Umgekehrt bedeutet dies: Die Beseitigung der Schieflage durch eine ökologische Steuerreform würde diesen gefährlichen Treibsatz aus Rationalisierungsdruck und Wachstumszwang entschärfen und unserer Zivilisation die Freiheit zurückgeben, ihre eigene Zukunft zu gestalten, statt sich nur noch von - in der heutigen Situation teilweise durchaus realen! - Sachzwängen regieren zu lassen.

Eine weitere Erklärung für unsere Wachstumsbesessenheit ist die folgende: Materielles Wachstum dient uns als eine Art Ersatzbefriedigung für ungestillte immaterielle Bedürfnisse. Unsere Zivilisation durchleidet eine schwere Sinnkrise und flieht, um ihre innere Verzweiflung zu betäuben, vor der Sinnentleerung und dem Werteverlust des modernen Lebens in einen unkontrollierten Konsumrausch: Konsum von materiellen Gütern und Konsum von Natur. Und wenn alle natürlichen Bedürfnisse gestillt sind, schaffen wir uns künstlich neue, immer maßlosere, denn, wie Seneca sagte: „die natürlichen Bedürfnisse haben ihre Grenzen, die aus einem Wahn entstandenen finden kein Ende.“

Diese Betrachtungen machen deutlich, welch überragende Rolle bei der Beseitigung der besprochenen ökologischen Strukturfehler der ökologischen Steuerreform zukommen wird. Sie ist eine zwar sicherlich nicht hinreichende, aber doch unbedingt notwendige Bedingung für die Überwindung des Konflikts zwischen Ökonomie und Ökologie (oder genauer: für die Erkenntnis seiner Nichtexistenz) und damit für die Lösung der großen globalen Probleme sowohl der ökologischen als auch der sozialen Frage.

(gekürzt und überarbeitet aus Solarbrief 1/01)