Das Ziel- und Ambitionsniveau der deutschen Klimapolitik, wie es im Klimaschutzgesetz (KSG) geregelt ist, ist fundamental unzureichend, gemessen an den Grundrechten sowie am Pariser Klima-Abkommen. Maßstab des Handels muss die klimawissenschaftlich fundierte, verfassungs- und völkerrechtlich verankerte Grenze von global 1,5 Grad maximaler Erderwärmung sein, um die Folgen der Klimakrise noch beherrschbar zu halten. Durch die aktuelle KSG-Reform wird aber sogar die Wahrscheinlichkeit des Erreichens der ungenügenden Ziele weiter verringert. Zudem reicht der grundlegende Ansatz bei den Klimaschutzmaßnahmen nicht mal für die eigenen, unzureichenden Ziele aus – und erst recht nicht für angemessen ambitionierte Ziele. Das KSG verstößt daher in seiner jetzigen Fassung gegen Grundrechte und muss nachgebessert werden. Der BUND hat deshalb am 26. Juni 2024 gemeinsam mit dem SFV und vier weiteren Einzelkläger*innen eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gegen den deutschen Gesetzgeber angekündigt.

Faktenblatt zur Klima-Verfassungsbeschwerde 2024 des SFV und BUND

1. Warum eine neue Klima-Verfassungsbeschwerde nötig ist

Die Bedrohung durch den Klimawandel nimmt zu. Durch den Anstieg des Meeresspiegels und menschenfeindliche Hitze werden ganze Regionen unbewohnbar, massive Naturkatastrophen wie extreme Hochwasserereignisse und Stürme, globale Verknappungen von Nahrung und Trinkwasser werden angesichts der fortschreitenden globalen Erwärmung wahrscheinlicher und zeigen sich teilweise schon heute. Dabei ist auch ökonomisch unstreitig, dass der Klimawandel um ein Vielfaches teurer zu werden droht als ein wirksamer Klimaschutz. Nötig ist es, zeitnah insbesondere zu null fossilen Brennstoffen in allen Sektoren zu kommen, auch eine reduzierte Landnutzung und Tierhaltung und eine Verbesserung des natürlichen Klimaschutzes zum Binden von Treibhausgasen sind notwendig. Denn aktuell droht eine doppelte Gefährdung der in liberalen Demokratien verfassungsrechtlich garantierten Freiheit: Der Klimawandel droht die elementaren Voraussetzungen von Freiheit – Leben, Gesundheit und ökologisches Existenzminimum – zu ruinieren. Umgekehrt droht, dass ein wirksamer Klimaschutz so lange vertagt wird, bis er – obwohl schon heute die Schäden greifbar sind –irgendwann nur noch extrem schnell und damit in für die Freiheit herausfordernder Weise geschehen könnte.

Ein wirksamerer Klimaschutz wäre deshalb ein angemessener Schutz unser aller Freiheit. Im Jahr 2018 haben BUND und SFV gemeinsam mit mehreren Einzelklagenden eine erste Beschwerde vor dem BVerfG eingereicht, um genau dies festzustellen, die damalige Bundesregierung zu ehrgeizigeren Zielen beim Klimaschutz zu verpflichten. Andere Verbände und Einzelklagende folgten ab 2020. 2021 entschied das Bundesverfassungsgericht aufgrund dieser Beschwerden und verpflichtete die Regierung, das geltende KSG, welches die deutschen Klimaziele festlegt, im Sinne eines langfristigen Freiheitsschutzes nachzubessern und das Klimaschutz-Ambitionsniveau zu erhöhen.

Die deutschen Klimaziele im KSG sind aufgrund des BVerfG-Klima-Beschlusses 2021 angehoben und konkretisiert worden, sie sind jedoch weiterhin unzureichend. Mit der KSG-Reform 2024 – Stand heute (26. Juni 2024) noch nicht unterzeichnet durch den Bundespräsidenten – wird die Einhaltung der bereits unzureichenden deutschen Klimaziele faktisch weiter erschwert werden. Deshalb wenden sich BUND und SFV, sofern die KSG-Novelle vom Bundespräsidenten unterzeichnet und ausgefertigt wird, erneut an das BVerfG, um unser aller Freiheit besser zu schützen. Das BVerfG soll ferner feststellen, dass nicht nur die Klimaziele unzureichend sind und die faktische Erschwerung ihrer Einhaltung verfassungswidrig ist – es ist auch unzulässig, klimapolitische Maßnahmen so auszuwählen, dass für jeden Fachkundigen offensichtlich ist, dass das Handeln für die Klimaziele nicht ausreicht. Im Einzelnen:

2. Ambitionsniveau der Klimaziele grundlegend unzureichend

Das deutsche Klimaziel-Ambitionsniveau ist grundlegend unzureichend. Rückenwind erhalten wir für dieses Vorbringen von einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom April 2024 zur Klage der Schweizer „Klimaseniorinnen“. Das Urteil bestätigt in manchen Punkten noch deutlicher als der BVerfG-Klima-Beschluss von 2021: Klimaschutz ist Menschenrecht – und die 1,5-Grad-Grenze ist verbindlich. Der EGMR betont deutlich, dass 1,5 Grad die Obergrenze der tolerierbaren Erderwärmung ist, wenn wir nicht katastrophale Folgen riskieren wollen. Einfluss auf diese Interpretation der Grund- bzw. Menschenrechte auf Freiheit und ihre elementaren Voraussetzungen hat dabei der Art. 2 Abs. 1 des Pariser Klima-Abkommens. Diese Norm schreibt den Staaten rechtsverbindlich vor, ihre Klimapolitik so auszurichten, dass die globale Erwärmung bei weit unter 2 Grad und möglichst 1,5 Grad Celsius gestoppt wird. Der EGMR erkennt zutreffend, dass damit real die 1,5-Grad-Grenze das global verbindliche Klimaziel darstellt, an dem sich das Ambitionsniveau nationalstaatlicher – oder auch EU-seitiger – Klimapolitik messen lassen muss.

Demgegenüber ließ sich der BVerfG-Klima-Beschluss von 2021 so lesen, dass vielleicht auch 1,75 Grad die Grenze sein könnten, weil das Pariser Klimaabkommen von „weit unter 2 Grad“ als Ziel spricht, obwohl das Abkommen hinzufügt, dass die Staaten „Anstrengungen“ unternehmen müssen, um 1,5 Grad zu erreichen. Angesichts der 1,5-Grad-Grenze müssen Regierungen und Parlamente, insbesondere der Industriestaaten, ihre Klimaschutzbemühungen drastisch verstärken. Nach den 2022 vorgelegten Daten des IPCC haben speziell westliche Industriestaaten wie Deutschland in aller Regel ihr Treibhausgasbudget für 1,5 Grad bereits ausgeschöpft. Denn anhand der 1,5-Grad-Grenze lässt sich ein ungefähres verbleibendes Treibhausgas-Budget berechnen, das auf einer gleichmäßigen Pro-Kopf-Verteilung des verbleibenden globalen Budgets beruht. Der IPCC gibt ein globales Restbudget von 300 Gigatonnen (Gt) CO2 mit einer Wahrscheinlichkeit von 83 Prozent für die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze ab 1. Januar 2020 an. Bei einem Pro-Kopf-Ansatz würde dies für Deutschland, das ein Hundertstel der Weltbevölkerung ausmacht, einen Rest von 3 GtCO2 bedeuten. Diese Menge hat Deutschland bereits jetzt verbraucht.

Wenn Deutschland Klimaneutralität im KSG erst für 2045 anstrebt (und die EU im European Climate Law gar erst für 2050), ist dies somit unzureichend. Dies gilt umso mehr, als das oben vorgestellte Budget sogar sehr günstige Annahmen für Industriestaaten enthält. So impliziert das Klimavölkerrecht eine Umverteilung des Budgets zu Gunsten der Länder des Globalen Südens, die eine geringere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit haben und auch pro Kopf viel weniger zum Klimawandel beigetragen haben: Der Verweis auf die Leistungsfähigkeit und das Verursacherprinzip ist in Art. 2 Abs. 2 und 4 Abs. 4 des Paris-Abkommens sowie in Art. 3 Abs. 3 der Klimarahmenkonvention enthalten.

Dem folgend hat auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) den zulässigen Anteil Deutschlands an diesem globalen Treibhausgasbudget jüngst neu berechnet und bestätigt: Deutschland hat inzwischen mehr emittiert als uns nach fairen Maßstäben international zusteht, um 1,5 Grad nicht zu überschreiten. Der SRU rechnet dabei sogar nur mit 67 Prozent Einhaltungswahrscheinlichkeit für 1,5 Grad, berücksichtigt aber umgekehrt, dass Deutschland leistungsfähiger als der Globale Süden ist und historisch mehr zum Klimawandel beigetragen hat.

3. KSG-Reform verschlechtert Ambitionsniveau weiter

Die KSG-Reform vom Frühjahr 2024 ändert formal nichts am Ziel, bis 2045 klimaneutral zu werden. Durch verschiedene Mechanismen bewirkt das Gesetz jedoch, dass es faktisch unwahrscheinlicher wird, dass Deutschland dieses Ziel erreicht. Die Einhaltung der ohnehin schon unzureichenden Ziele wird damit noch unwahrscheinlicher. Dies ergibt sich aus einer Reihe von Neujustierungen im neuen KSG. Exemplarisch seien folgende Aspekte genannt:

  • Die KSG-Novelle wurde von Bundesregierung und Bundestag präsentiert als bessere Berücksichtigung sektorübergreifender Klimaschutzanstrengungen. Letztlich sei es gleichgültig, in welchem Sektor die Emissionsreduktionen erfolgen. Die Gesetzesänderungen bewirken jedoch faktisch, dass eine Erreichung des übergreifenden Klimaziels insgesamt unwahrscheinlicher wird. Denn statt eines jahresscharfen, verbindlichen und mit rechtlichen Konsequenzen verknüpften sinkenden Emissionsminderungspfad für jeden Sektor soll künftig nur noch die Einhaltung der sektorübergreifenden summierten Jahresemissionsmengen in den Zeiträumen 2021-2030, 2031-2040 sowie 2041-2045 relevant sein. Es wird nur noch in Jahrzehnten gerechnet. Und erst, wenn zwei Jahre in Folge die Projektionsdaten eine Überschreitung der Jahresemissionsmengen des jeweiligen Jahrzehnts prognostizieren, muss die Bundesregierung durch zusätzliche Maßnahmen nachsteuern. Das steht zudem im Widerspruch zu den weiterhin auf EU-Ebene verbindlich geltenden sektoralen Klimazielen (geregelt in der Lastenteilungs-Verordnung). Der BVerfG-Klima-Beschluss von 2021 verlangt, dass „weitere Jahresemissionsmengen und Reduktionsmaßgaben so differenziert festgelegt werden, dass eine hinreichend konkrete Orientierung entsteht. Erst dies erzeugt den erforderlichen Planungsdruck, weil nur so erkennbar wird, dass und welche Produkte und Verhaltensweisen im weitesten Sinne schon bald erheblich umzugestalten sind. Wenn im Einzelnen konkret erkennbar ist, dass, wann und wie die Möglichkeit endet, Treibhausgas zu emittieren, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass klimaneutrale Technologien und Verhaltensweisen diesem Entwicklungspfad entsprechend zügig etabliert werden“ (Rn. 254 des Beschlusses).
  • Zudem verlangt das BVerfG, den Übergang zur Klimaneutralität möglichst frühzeitig und für die Bürger*innen planbar einzuleiten. Dies gelingt jedoch nicht, wenn etwa durch ein Rechnen in längeren Zeiträumen gepaart mit zu später Reaktion auf Zielverfehlungen das Klimaschutzhandeln absehbar weiter in die Zukunft verschoben wird und dort dann umso kurzfristiger und drastischer ausfallen müsste.
  • Neben diesen inhaltlichen Grundrechtsverstößen – also dem inhaltlich noch weiter abgesenkten Klimaschutz-Ambitionsniveau – liegt auch ein prozeduraler Verfassungsverstoß vor. Nach dem Parlamentsvorbehalt muss, wie auch der BVerfG-Klima-Beschluss bestätigt hat, das Parlament und nicht die Regierung die wesentlichen klimapolitischen Entscheidungen treffen. Dies wird in der KSG-Novelle unterlaufen, weil künftig die Jahresemissionsmengen durch Verordnung seitens der Bundesregierung ohne Orientierung an jährlichen Minderungszielen festgelegt werden können. Damit stehen wesentliche Konkretisierungen künftig in Verordnungen, nicht mehr im Gesetz.

Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hat einer Klage u.a. des BUND 2023 nach dem alten KSG stattgegeben und die Bundesregierung verurteilt, sofort mehr Maßnahmen in den Bereichen Gebäude und Verkehr vorzulegen (derzeit liegt das Verfahren in Revision beim Bundesverwaltungsgericht/ BVerwG). Anstatt diesem Urteil Folge zu leisten, hat der Gesetzgeber das KSG abgeschwächt. Damit macht er eine angemessene Reaktion der Politik auf Klimazielverfehlungen deutlich unwahrscheinlicher.

 

4. Grundlegend unzureichendes Maßnahmenniveau

Zudem reicht der grundlegende Ansatz bei den Klimaschutzmaßnahmen nicht mal für die eigenen, unzureichenden Ziele aus – und erst recht nicht für angemessen ambitionierte Ziele. Unabhängig von der aus Gewaltenteilungs-Gründen offenen Frage, wie detailliert das BVerfG die exakte Ausgestaltung von Klimaschutzmaßnahmen betrachten wird, ergeben sich aus dem gebotenen Klimaschutz-Ambitionsniveau gemeinsam mit dem Gebot sorgfältiger Tatsachenermittlung aus dem BVerfG-Klima-Beschluss jedenfalls einige prinzipielle Anforderungen an die Gesamtheit der Klimaschutzmaßnahmen. Diese müssen tatsächlich zum Ambitionsniveau passen und dürfen nicht auf fiktiver Tatsachengrundlage eine solche Passfähigkeit nur behaupten.

Auch der von der Bundesregierung eingesetzte Expertenrat für Klimafragen hat der immer wieder und erneut im Juni 2024 bescheinigt, dass die Klimaschutzmaßnahmen nicht einmal ausreichen, um auch nur die geltenden Ziele des Klimaschutzgesetzes einzuhalten. Der Expertenrat macht unter anderem geltend, dass die Annahmen der Regierung zur Emissionsentwicklung zu optimistisch sind, die Maßnahmen, allen voran im Verkehr, und auch die Finanzierung des Klimaschutzes nicht ausreichen. So ist die Erreichung des Klimaziels 2030 nicht zuverlässig gegeben, ebenso wenig das Ziel für 2040 oder die Klimaneutralität bis 2045. Die Maßnahmen Deutschlands reichen also nicht mal für die Einhaltung der eigenen Klimaziele aus. Der Grundansatz der deutschen Klimapolitik steht daher auch auf der Maßnahmenebene nicht im Einklang mit den Anforderungen aus dem BVerfG-Klima-Beschluss. Auch dies begründet eine Verfassungswidrigkeit des KSG, welches das wesentliche Scharnier zwischen den deutschen Klimazielen und den konkreten Politikmaßnahmen bildet.

 

5. Beschwerdeführende, Verhältnis zu anderen Beschwerden, Rechtsvertretung

Die Verfassungsbeschwerde fokussiert die Verfassungswidrigkeit des geänderten KSG und die Verfassungswidrigkeit selbst des bis dahin bestehenden Klimaziel-Ambitionsniveaus, ergänzt um das Problem, dass der Maßnahmenansatz der Bundesregierung grundlegend untauglich ist. Formaler Gegenstand ist immer das KSG, da dieses sowohl die aktuellen Verschlechterungen als auch das grundlegende (unzureichende) Ambitionsniveau und den Maßnahmen-Ansatz der deutschen Klimapolitik enthält.

Bereits beim Klima-Beschluss 2021 hat sich, wie oft in großen Verfahren vor dem BVerfG, die Vorgehensweise bewährt, eine Vielfalt von Argumenten und Perspektiven durch unterschiedliche Verbände und Einzelklagende vorzutragen und so zu einer ausgewogenen Entscheidung des BVerfG beitragen zu können. Andere Verfassungsbeschwerden, die jetzt parallel vorgebracht werden, wie die von Greenpeace und Germanwatch, adressieren etwa stärker einzelne Maßnahmen speziell im Verkehrssektor.

Als Beschwerdeführende treten neben den Verbänden SFV und BUND als Einzelpersonen auf: Mareike Bernhard, Ärztin, Koblenz; Karola Knuth, Studentin, Heidelberg; Kerstin Lopau, Ingenieurin für Erneuerbare Energien, Potsdam; André Wendel, Busfahrer, Leipzig.

Juristisch vertreten wird die Verfassungsbeschwerde von BUND und SFV – wie schon die Verfassungsbeschwerde beider Verbände von 2018, die ab 2020 durch weitere Beschwerden anderer Umweltverbände unterstützt wurde und 2021 zum BVerfG-Klima-Beschluss geführt hatte – von der Kanzlei Baumann Rechtsanwälte und dort den Rechtsanwältinnen Dr. Franziska Heß und Lisa Hörtzsch, gemeinsam mit Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt von der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik (alle Leipzig), der die damalige Klage seit 2010 mit fünf Rechtsgutachten für den SFV vorbereitet hatte.

Kontakt: 

Prozessvertreter*in (alle Leipzig): 

Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND)

Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V. (SFV): 

  • Susanne Jung, Geschäftsführerin und Vorständin des Solarenergie-Förderverein Deutschland e.V., 0241-511616, jung@sfv.de

Impressum:

Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e.V. (BUND) – Friends of the Earth Germany, Kaiserin-Augusta-Allee 5, 10553 Berlin, Tel. (030) 2 75 86-40, bund@bund.net, www.bund.net

V.i.S.d.P.: Nicole Anton, Kontakt: Nicole.Anto@bund.net, Stand: Juni/2024