Eindrücke von der RWE-Hauptversammlung in Essen am 23.4.2015

 

Metalldetektor-Schleusen und Gepäckdurchleuchtungsanlagen – bei der RWE-Hauptversammlung wirkt die Gruga-Halle wie ein internationaler Flughafen. Hat man diese Kontrollen überwunden, fühlt man sich auch ein bisschen exterritorial. Man ist in einer Welt, in der andere Werte und andere Einstellungen gelten, als sie einem Immanuel Kants Sittengesetz eingibt.

Peter Terium, der Vorstandsvorsitzende, hält gerade seinen Lagebericht. Drei Tätigkeitsfelder sollen in Zukunft bestimmend für RWE sein: Erneuerbare Energien, Netze und der Vertrieb. Im Bereich der Erneuerbaren Energien habe man im vergangenen Jahr ca. eine Milliarde Euro investiert, vorzugsweise in Offshore-Windparks. Später erfährt man, dass RWE für die kommenden drei Jahre insgesamt eine Milliarde für diesen Bereich aufbringen will – nach einem Ausbau dieses Segments sieht das nicht aus. Im Übrigen ist es klar, dass RWE sein Geld hauptsächlich mit konventionellen Kraftwerken macht. Terium fordert, es müssten Bedingungen geschaffen werden, bei denen sich der Bau (!) und der Betrieb konventioneller Kraftwerke wieder lohnten. Er spricht den bemerkenswerten Satz aus: „Auch Klimaschutz muss wichtig bleiben, aber eben nicht über allem anderen stehen.“ Sondern? Was sonst muss über allem anderen stehen?

Der Beginn der Aussprache liefert hierfür Hinweise. Zunächst sprechen jene Aktionärsvertreter, die ihren Beitrag mit der Zahl der Aktien einleiten, die hinter ihnen stehen: Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, der Verband der Kommunalen RWE-Aktionäre (der sich gegen Vorwürfe einer Obstruktionspolitik wehrt), und andere. Hier wird Klage darüber geführt, dass die deutschen Energieversorger zum „Spielball der Politik“ geworden seien. Mit Sigmar Gabriels behutsamen Ideen für eine CO2-Abgabe auf Uralt-Kohlekraftwerke werde man „wieder Opfer von Berlin“, und man möge dem Minister doch bitte seine „Beinfreiheit“ ein wenig beschneiden. – „Wo ist künftig unsere Cash Cow?“ wird gefragt, und: „Warum spalten wir uns nicht auf wie E.on?

Über allem anderen steht mithin nicht der Klimaschutz, sondern das Konzernergebnis, ausgedrückt in Mrd. €. Das ist nicht überraschend; eher horcht man auf bei einem Redebeitrag, der beides miteinander verknüpfen will: RWE müsse die CO2-Emissionen senken, sagt da einer, im Interesse der Aktionäre, „denn niemand sonst zahlt die Zeche“. Außerhalb des RWE-Raumschiffs würde man ja eher denken, die Zeche des ungebremsten CO2-Ausstoßes würden die Opfer von Dürren, Meeresspiegelanstieg und tropischen Wirbelstürmen zahlen. Aber das Statement ist freilich besser als das des nachfolgenden Redners, der fragt, ob nicht die „verlustbringenden Gaskraftwerke verstärkt abgeschrieben oder verkauft“ werden sollten. Also die einzigen konventionellen Kraftwerke, die man sinnvoll mit Erneuerbaren Energien kombinieren kann.

Die erste Frau tritt ans Mikrophon; sie fragt, wie die Konzernleitung die Anzahl von Frauen auf allen Ebenen des Managements zu heben gedenke. Sie bemerkt Fortschritte in den Reaktionen der Anwesenden, die nicht mehr bei der Erwähnung des Anliegens spontan losjohlten wie bei früheren Gelegenheiten. Doch der zivilisatorische Fortschritt hält nur wenige Minuten. Dann setzt ein Pfeifen ein, ein Klatschen an unpassenden Stellen, einzelne aggressive Rufe. Das männerbündische Milieu der Aktionärsszene ist noch nicht außer Kurs gesetzt.

Aber nun kippt die Veranstaltung. Der Aufsichtsratsvorsitzende Schneider, der die Versammlung leitet, und die Vorstandsmitglieder haben sich bisher schon heftige Kritik anhören müssen, und ihre Gesichtsfarbe ist graduell dunkler geworden. Jetzt aber verwandelt sich die Hauptversammlung in ein Tribunal über den RWE-Konzern. Die Kritischen Aktionäre haben sich für ein Dutzend Wortbeiträge auf die Rednerliste gesetzt. Einer analysiert schlüssig, dass die geplanten Fernübertragungsleitungen, über die es vom Vorstandstisch zuvor geheißen hatte, sie dienten dem Transport von Windstrom, tatsächlich zwecks Durchleitung von Braunkohlestrom errichtet werden sollen. Er fragt außerdem, warum RWE nicht stärker in Speichertechnologien investiere, wenn der Konzern doch bei der Energiewende voRWEgzugehen beanspruche. Eine süddeutsche Trassengegnerin schlägt in dieselbe Kerbe und empfiehlt, weniger Geld in Image-Kampagnen und dafür mehr in Erneuerbare Energien zu investieren. Ein münsterländischer Anti-Atom-Aktivist fragt nach dem jüngsten Störfall im Atomkraftwerk Emsland, das am 3. April wegen einer Leckage vom Netz genommen werden musste. Außerdem erkundigt er sich nach dem geplanten Verkauf der RWE-Anteile an der Urananreicherungsanlage in Gronau, der aufgrund der Fähigkeit dieser Anlage, atombombenfähiges Material zu erzeugen, sicherheitstechnisch höchst problematisch ist.

Am Eindrucksvollsten ist aber eine Gruppe von Wortbeiträgen, die sich mit den Folgen der Kohleförderung beschäftigen. Die Initiative „urgewald“ hat Betroffene aus der russischen Region Kamtschatka und aus Kolumbien, sowie Michael Hendryx, Professor für Öffentliche Gesundheit an der West Virginia University, nach Essen gebracht. Es handelt sich um drei Abbauregionen, von denen RWE große Teile seiner Steinkohle bezieht. Professor Hendryx berichtet über die massiven gesundheitlichen Folgen der Kohlegewinnung durch das Wegsprengen von Berggipfeln (mountaintop removal), das in den Apalachen in großem Stil betrieben wird und abgesehen von gewaltigen Naturzerstörungen mit der massiven Freisetzung von Schwermetallen und weiteren Giften verbunden ist. – Der Aktivist aus Kamtschatka schildert die Kulturzerstörungen in seiner Heimat; eine der letzten Siedlungen seines Volkes hat vor kurzem dem Kohleabbau weichen müssen. Wegen seines Engagements lebt er inzwischen als politisch Verfolgter im Exil. – Die kolumbianische Indigena erzählt von den Praktiken der in ihrer Heimat agierenden Kohleabbau-Firmen Drummond und Prodeco, Paramilitärs anzuheuern, um den Protest gegen die dortigen Verwüstungen zu ersticken. Sie spricht von 3000 Morden und 55000 Vertriebenen durch diese Vorgehensweise. Die Bewohner ihres Dorfes warten seit Jahren erfolglos auf eine Umsiedlung, denn das Dorf ist weithin von abgeriegeltem Privateigentum der Bergbaufirmen umgeben.

Alle Fragen, die in der Aussprache an den RWE-Vorstand gerichtet wurden, werden unter Zuhilfenahme eines dafür entwickelten Computerprogramms und durch Unterstützung von 50 RWE-Mitarbeitern im Backstage-Bereich zeitnah beantwortet. Zu den Fragen der internationalen Gäste hat der Vorstand nur zynische, schnoddrige Antworten parat. Alle Gesetze würden eingehalten; Mountaintop-removal sei in den USA eine anerkannte Fördermethode; man beteilige sich ja am „Better-Coal-Codex“, wonach die Abbaubedingungen in „Audits“ analysiert würden, und wisse aus diesem Programm nichts Nachteiliges über die erwähnten Regionen; man beziehe die Kohle nicht unmittelbar von den kriminell vorgehenden Firmen, sondern höchstens indirekt.

Die Kaltschnäuzigkeit dieser Antworten ist schwer erträglich. Aber einen nicht-kritischen Aktionär, der nun auf der Rednerliste stand, empört etwas anderes: Er kritisiert die Vesammlungsleitung dafür, „was wir hier für Redebeiträge über uns ergehen lassen müssen, bevor wir zur Tagesordnung sprechen können“. Damit meint er wohl, wieder geradegerückt zu haben, wer Täter und wer Opfer ist.

Doch die Zumutungen für diejenigen Teilnehmer, die neben der diesmaligen und der künftigen Dividendenerwartung kein legitimes Thema einer Debatte denken konnten, sind noch nicht zuende. Die heimische Braunkohle, Hauptstandbein des RWE-Geschäftsmodells, muss ebenfalls ordentlich Prügel einstecken. Schon früh in der Debatte hat ein Kölner Kinderarzt auf die Folgen der Feinstaubbelastung insbesondere auf die Atmungsorgane kleiner Kinder hingewiesen. Ein aus Kerpen angereister Teilnehmer berichtet darüber, was es bedeutet, an der vorrückenden Kante eines Tagebaugebietes zu leben. Und anschließend schildert eine Krankenschwester, die in Blickweite des Braunkohlekraftwerks Frimmersdorf lebt, welche Belastungen für das alltägliche Leben dies bedeute. Sie spricht von einer erschreckenden Häufung von Krebserkrankungen in ihrer Familie, in der Siedlung und der weiteren Umgebung. Sie tut dies mit einer beeindruckenden Faktenkenntnis und zugleich mit einer solchen emotionalen Wucht, dass am Ende selbst viele „normale“ Aktionäre ihr den Applaus nicht verweigern mögen. – Die Entgegnung von Vorstandsmitglied Rolf Martin Schmitz: Frimmersdorf stelle nach wie vor einen wichtigen Baustein im Kraftwerksportfolio von RWE dar, und an ein Abschalten sei auf absehbare Zeit nicht gedacht. Punkt. Bereits vorher hat er beteuert, die RWE seien „von der langfristigen Bedeutung der Braunkohle als Partner (!) der Erneuerbaren überzeugt“. Punkt.

Zehn Stunden sind um. Nichts wie raus aus diesem Duty-Free-Bereich, wieder vorbei an den Sicherheitsschleusen. Ein letzter Blick auf das Motto dieser Hauptversammlung: „VoRWEggehen und den Wandel gestalten.“ Nein Danke!

Empathie – das zeigte diese Hauptversammlung mit empörender Deutlichkeit – Empathie gehört nicht zu den Kardinaltugenden, die in der Chefetage von RWE gepflegt werden. Vielleicht muss dies ja so sein. Vielleicht bricht dieser Konzern ja tatsächlich zusammen, wenn er sein Geschäftsmodell nicht mehr mit der Zerstörung der Lebensgrundlagen zehntausender Menschen weltweit umsetzen kann. (Und nota bene: Vom eigentlichen Hauptproblem – dem Klimawandel – wurde noch gar nicht gesprochen!) Wir lernen daraus, dass in jedem Falle die Energiewende gegen diesen Konzern durchgesetzt werden muss. Die Bundesregierung steht vor der Frage, ob die „Systemrelevanz“ eines solchen Konzerns schwerer wiegt als eine gute Zukunft in unserem Land und auf unserem Planeten.