Die FAZ bricht eine Lanze für die Atomkraft

 

Werfen wir einen Blick auf die „Frankfurter Allgemeine“. Diese Zeitung, die von sich selbst früher gerne behauptete, dahinter stecke „immer ein kluger Kopf“, ist ein zuverlässiges publizistisches Bollwerk gegen die Energiewende in Deutschland und der Welt, und sie versucht bereits heute, diskursiv auf einen erneuten Ausstieg aus dem Atomausstieg vorzubereiten. So z.B. am 20. Mai 2015, als der Wirtschafts-Korrespondent Winand von Petersdorff-Campen einen Beitrag unter der Überschrift „Atomkraft? Ja bitte!“ veröffentlichte. Dieser Text ist von exemplarischem Rang; deswegen mag es gerechtfertigt sein, ihn auch nach einem Monat einmal näher anzuschauen.

 

Atom-Waschmaschinen als Glücksindikator

 

Der Aufhänger für Petersdorffs Werbefeldzug ist die These, die Welt habe künftig einen rasant steigenden Energiehunger, weil die Weltbevölkerung weiter wachse und weil sich die Länder des Südens legitimerweise industrialisieren wollten. Er kleidet das in die Formulierung: „Milliarden Menschen in armen Ländern kämpfen für ein besseres Leben. Und dieses Leben ist mit einem deutlich höheren Energieverbrauch verbunden.“ Da nun fossile Energieerzeugung wegen des Ausstoßes von Treibhausgasen „über kurz oder lang zu verschwinden“ habe, werde die Atomenergie benötigt.

Petersdorff gehört also zu jenen, die auch im Jahre 2015 als einzige energietechnische Alternative „fossil oder atomar“ gelten lassen (zu seinen Einschätzungen der Erneuerbaren später mehr). So wie z.B. die Ministerpräsidentin von NRW, Hannelore Kraft (SPD), ausgerechnet der Braunkohle „für die Energiewende eine besondere Bedeutung“ zusprechen kann (1), weil sie diese Wende auf den Atomausstieg reduziert, so hat die Atomlobby den Treibhauseffekt entdeckt und preist ihre Atommüllfabriken als Beitrag gegen den Klimawandel an. Wir sollen die Gefahren der Radioaktivität und die Gefahren des Klimawandels nie gleichzeitig denken dürfen. Wenn man bedenkt, dass die Betreiber und Nutznießer atomarer und fossiler Kraftwerke meistens dieselben sind, drängt sich der Verdacht auf, dass dahinter eine systematische Verunsicherungsstrategie steckt: Vermeintlich steigern wir mit jedem Braunkohletagebau, den wir verhindern, die Strahlungs-Gefahren, und fördern mit jedem AKW, für dessen Abschaltung wir sorgen, den Klimakollaps. Natürlich funktioniert das nur, wenn die tatsächliche Alternative, nämlich saubere Erneuerbare Energien, verschwiegen oder kleingeredet wird.

Aber die Trickkiste, in welche Petersdorff greift, hat noch andere Werkzeuge zu bieten. Eines ist das sozialpolitische Argument. Das gute Leben, so der FAZ-Autor, lasse sich „herunterbrechen“ auf den Besitz einer Waschmaschine. „Jede Familie auf der Welt sollte Zugang zu diesem größten Wunder der Menschheitsgeschichte haben.“ Man kann diesen Fortschrittsindikator durchaus bezweifeln; aber wir wollen uns einmal auf ihn einlassen, da der Betrieb einer Waschmaschine voraussetzt, dass ein Haushalt an das Wasser- und Stromnetz angeschlossen ist und „Zugang zu den Erzeugnissen der Chemieindustrie“ hat. Das fossil-atomare Welt-Energiesystem hat seit der Einführung der elektrischen Waschmaschine im frühen 20. Jahrhundert viele Jahrzehnte Zeit gehabt, diese Verheißung zu erfüllen. Tatsächlich leben heute Milliarden von Menschen auf der Erde nicht nur ohne Waschautomaten, sondern ganz ohne Zugang zu den Stromnetzen, die allenthalben nur solche Wohngegenden versorgen, bei denen es sich für die Betreiber rentiert. Es ist eines der größten Hoffnungsmomente der auf Sonnenenergie und Pufferspeichern basierenden dezentralen Energiewende, dass entlegene Orte in armen Ländern des Südens erstmals überhaupt mit Elektrizität versorgt werden (netzunabhängig) und z.B. eine LED-Lampe die zuvor verwendeten gesundheitsschädlichen Kerosinfunzeln ersetzt. Dass der neoliberale Kapitalismus mit neuen Atomkraftwerken gerade solche Gegenden mit elektrischen Waschmaschinen versorgen würde, ist eine groteske Annahme. Das gilt übrigens auch für das Schwellenland Indien, Petersdorffs „gutes Beispiel“, wo in den ausufernden Metropolen eine allgemeine, bezahlbare Wasser- und Stromversorgung nicht von den Monopolkonzernen, sondern von kapitalismuskritischen Basisbewegungen auf die Tagesordnung gesetzt wird. Diesem Land, mit seinen 300 Sonnentagen im Jahr, für den nötigen Ausbau der Energieversorgung die teure und gefährliche Atomenergie zu empfehlen (die nach einigen Jahrzehnten ohnedies wegen Erschöpfung des Rohstoffs wieder ersetzt werden müsste), ist ein in jeder Hinsicht vergifteter Vorschlag.

Die FAZ und ihr Korrespondent reihen sich mit dem Waschmaschinen-Argument in die Riege der Demagogen ein, die Krokodilstränen über Energiearmut in Deutschland vergießen (wie die „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ INSM, oder liberale und konservative Politiker), obwohl ihnen jeder andere Aspekt derselben Armut schnurzegal ist, z.B. wenn es um die Höhe der Hartz-4-Sätze geht. Unser FAZ-Autor redet über Milliarden von Menschen, die – lange bevor sie sich nach einer Waschmaschine sehnen – zunächst einmal glücklich wären, abends nicht hungrig ins Bett gehen zu müssen. Nur tritt bei Petersdorff zur sozialpolitischen Unaufrichtigkeit noch die technische Absurdität, ein im Wesentlichen dezentrales Problem mit einer maximal zentralistischen Technologie lösen zu wollen.

 

Energiewende: Ineffektiv?

 

Petersdorff kann die Erneuerbaren Energien nicht totschweigen. In der zweiten Hälfte seines Beitrags geht er auf sie ein. Nichts, was er dazu sagt, hat Hand und Fuß. Sein erstes Argument ist die bekannte Verquickung von deutschem EEG und europäischem Emissions-Zertifikatehandel. Durch letzteren werden bekanntlich die Erfolge der deutschen Energiewende teilweise wieder zunichte gemacht, weil jede CO2-Einsparung die „Verschmutzungsrechte“ sogleich verbilligt. Wie alle Gegner des EEG bzw. der Energiewende, behandelt Petersdorff den Zertifikatehandel als Naturgesetz, an dem sich alle anderen Maßnahmen zu orientieren hätten. Und er deklamiert, dass dieser von ihm imaginierte Zusammenhang „in der deutschen Umweltbewegung nicht stärker thematisiert“ werde, sei „Ausweis einer gewissen Unredlichkeit.“ Nun; uns will erscheinen, dass seine Vertauschung von Bock und Gärtner eher auf ihren Redlichkeitsgehalt hin überprüft werden sollte. Lieber Herr Petersdorff, hier noch einmal für Sie persönlich: Nicht das EEG ist untauglich, die CO2-Emissionen zu reduzieren, sondern der neoliberale Handel mit „Verschmutzungsrechten“ ist direkt gegen die Erfolge des EEG gerichtet und gehört durch eine klare, berechenbare CO2-Steuer ersetzt.

 

Weltweite Energiewende: Teuer?

 

Des Weiteren verweist der FAZ-Korrespondent auf die hohen Geldsummen, die in Deutschland für die Energiewende eingesetzt würden, und stellt mit globaler Perspektive die Frage: „Wer in der Welt könnte sich so ein Programm überhaupt noch leisten, wenn er denn nur wollte?“ Wieder nutzt er einen eigentlich leicht zu durchschauenden Taschenspieler-Trick. Das Ziel und die Logik der deutschen Energiewende bestand darin, die Technologien der Photovoltaik und der Windenergienutzung durch Massenproduktion preiswerter zu machen. Der Erfolg dieser Strategie ist beeindruckend: Um mindestens 80 Prozent sanken seit dem Jahr 2000 die spezifischen Kosten für Strom aus PV-Anlagen. Und von diesen reduzierten Preisen kann jedes Land ausgehen, das heute eine Energiewende durchführen möchte. Die Kosten sind also mit denen der deutschen Energiewende keinesfalls gleichzusetzen. Deswegen sagen wir: Das EEG war die beste Entwicklungshilfe, die Deutschland je geleistet hat.

Hinzu kommt, dass in vielen armen Ländern von einem Umbau der Energieversorgung kaum gesprochen werden kann; es geht um deren erstmaligen Aufbau. Es ist daher erfreulich, dass viele ‚Entwicklungsländer‘ (wie z.B. Nicaragua) heute gleich auf Erneuerbare Energien setzen, um ein preiswertes, importunabhängiges und umweltschonendes Energiesystem zu etablieren. Auf Atomkraft zu setzen, dafür sind die armen Länder buchstäblich zu arm. Die sinnlos verpulverte Milliarde Euros, die z.B. Südafrika für einen nie gebauten Hochtemperaturreaktor in den Sand setzte, dürften ebenso abschreckend wirken wie die explodierenden Baukosten der AKW-Neubauten z.B. in Finnland, oder die grotesk hohe Subventionierung der Neubauten in Hinkley Point (Großbritannien).

 

Atomkraft: Risikolos?

 

Über die Atomkraft liefert uns Petersdorff ebenfalls den üblichen Zynismus. „Das Unglück in Japan hat gezeigt, wie wenig riskant die Kernenergie ist.“ Denn die Fukushima-Katastrophe habe „kein einziges Menschenleben gefordert“. Als Opfer von Strahlung gilt einer solchen Sichtweise nur, wer infolge von Höchstbestrahlung schnell an der „Strahlenkrankheit“ stirbt. Zehntausende zusätzlicher Krebsfälle gehen in so eine Statistik nicht ein: Es ist ja in keinem Einzelfall zweifelsfrei zu beweisen, dass sie von der Strahlung der havarierten Reaktoren herrühren. Eine solche Argumentation ist schäbig, besonders wenn Petersdorff sie mit der – richtigen! – Beobachtung konfrontiert, dass zahllose Menschen jährlich „Opfer der Abgase aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe werden“; bei denen ist der Nachweis im Einzelfall meist ähnlich schwer zu führen.

Darüber hinaus schwadroniert Petersdorff von „neuen Generationen von Kernkraftwerken“, die den Atommüll „recyceln“ könnten und damit das Endlagerproblem obsolet machen würden. Selbst wenn es sich hier nicht um Chimären handeln würde, würde die Entwicklung solcher Reaktortechnologien so lange dauern, dass die Erde bis zu ihrer Inbetriebnahme den Klimakollaps bereits erlitten hätte – zumal die Gelder, die in die Entwicklung und den Bau solcher Wundergeräte fließen würden, nicht mehr für die Einführung sauberer, Erneuerbarer Energien zur Verfügung stünden. Die FAZ fordert also sehenden Auges eine abstruse Ressourcen-Fehlallokation.

 

Flächen-Produktivität

 

Einen nicht ganz unoriginellen Gedanken trägt Petersdorff immerhin vor, und er soll hier aus Gründen der Versöhnlichkeit am Ende stehen. Es ist der Gedanke der „Flächen-Produktivität“. Im Lichte des Bevölkerungswachstums und im Sinne des Umweltschutzes sei es sinnvoll, so argumentiert er, alle menschlichen Handlungsformen – Wohnen, Ackerbau, Energieversorgung – möglichst zu intensivieren, also räumlich zu verdichten, um möglichst viele Flächen von diesen Nutzungen freizuhalten. Das ist ein Argument, wie maßgeschneidert für die Atomenergie. Petersdorff rechnet nun vor, das Neubauprojekt Hinkley Point C verbrauche 175 Hektar Land; um dieselbe Strommenge zu produzieren, würden Windkraftanlagen 100.000 Hektar „beanspruchen“, „etwas mehr als die Fläche von Berlin“. Wie dies? Wenn wir überschlägig nachrechnen, müssen wir von 3000 MW nutzbarer Leistung der beiden Blöcke von Hinkley Point C ausgehen, für die wir einmal 8000 Volllaststunden im Jahr ansetzen wollen. Bei jeweils 2000 Volllaststunden würden 4000 Windräder mit jeweils 3 MW Leistung dieselbe Strommenge (24 GWh) produzieren können. Für das Fundament eines solchen Windrads müssen 300 Quadratmeter dauerhaft versiegelt werden. Das ergibt bei 4000 Anlagen also 120 Hektar, nicht 100.000. Zu Wartungszwecken dauerhaft freigehalten (aber nicht versiegelt) werden muss pro Windrad eine Fläche von einem Viertel Hektar, insgesamt also 1000 Hektar. Pro Quadratmeter versiegelter Fläche produzieren die Windkraftanlagen laut Wikipedia 21 MWh (in unserer Rechnung wären es 20) – Hinkley Point C nach den Angaben Petersdorffs bei voller Auslastung ca. 13,7 MWh, keine besonders beeindruckende Flächen-Produktivität!

Wo haben Herr Petersdorff und seine Gewährsleute von der britischen Energiebehörde ihre absurd überhöhten Zahlen her? Meinen sie vielleicht, dass man für Zufahrtswege zu den Windrädern oder für sonstige Infrastruktur das Achthundertfache der Fundamentfläche benötigt? Abgesehen von der Lächerlichkeit einer solchen Annahme dürften wir dann aber auch wohl zusätzlich zu den 175 Hektar des Landverbrauchs von Hinkley Point C noch den Uranbergbau, die Brennstoff-Produktionskette und die Endlagerung anteilig hinzurechnen. Und sollte man nicht die für unbewohnbar erklärten Sperrzonen um die havarierten Reaktoren von Tschernobyl [4300 km2] und Fukushima [ca. 600 km2]) auf alle Atommeiler des Planeten umlegen? Das wären dann, bei ca. 450 aktiven Reaktoren weltweit, etwas mehr als 1000 Hektar pro Block zusätzlich – bis zum nächsten Super-GAU.) Eine schlechtere Flächen-Produktivität als bei der Atomenergie lässt sich also bei genauerem Hinschauen kaum vorstellen.

 

Schluss

 

Petersdorffs Waschmaschinen-Aufhänger weist vielleicht darauf hin, dass er etwas weißzuwaschen versucht, was sehr schmutzig ist: das Image der Atomenergie. Auf der Ebene der Fakten gelingt ihm diese Operation nicht; es riecht streng aus seiner argumentativen Waschmaschine. Aber rhetorisch ist er nicht ungeschickt. Es ist wichtig, sich auf solcherlei Scheinargumentationen einzulassen. Nicht, dass sie im Jahr 2015 in Deutschland Chancen hätten; aber die Lohnschreiber der Atommafia laufen sich ja erst warm – in den kommenden Jahren dürften wir viel mehr von dieser Sorte zu lesen bekommen. Hoffentlich sind wir dann vorbereitet.

 

1  Vgl. Kölner Stadtanzeiger, 15.8.2012, "In Betrieb genommen"