So groß der Verlust durch den plötzlichen Tod von Hermann Scheer auch sein mag, so klar ist doch die Botschaft, die er in seinem letzten Buch hinterlassen hat: Die Nutzung Erneuerbarer Energien ist ein naturgesetzlicher Imperativ. Hermann Scheer beruft sich auf Wilhelm Ostwald, der schon 1912 geschrieben hat, das fossile Zeitalter könne nur ein Übergangsstadium sein *. Ostwald stellte die Bedeutung dieses Naturgesetzes, nämlich die Nutzung unerschöpflicher Energiequellen, sogar über Kants kategorischen Imperativ, der eine moralisch/ethische, nicht jedoch naturgesetzlich begründbare Forderung darstellt.

Abseits aller philosophischen oder ethischen Betrachtungen wird heute allgemein anerkannt, dass die Zukunft den Erneuerbaren Energien gehören wird. Doch sind nach Hermann Scheer die Fragen, auf welchem Weg die Umstellung vorgenommen wird und wie lange die Umstellungszeit in Anspruch nehmen wird, höchst umstritten:

  • Welche „Altenergien“ sollen bis zu einer vollständigen Umstellung genutzt werden?
  • Welche Optionen Erneuerbarer Energien sollen genutzt werden und wieviel Speicher sind notwendig?
  • In welchen Strukturen sollen die Erneuerbaren genutzt werden?
  • Welche politischen Konzepte sind für die Umstellung tauglich?
  • Welche Akteure können den Energiewechsel vorantreiben?

Nach einer umfassenden analytischen Aufarbeitung der gegenwärtigen Situation der Energieversorgung führt Hermann Scheer den Leser entlang der letzten drei Fragen.

Ein zentrales Thema nimmt bei ihm die Strukturfrage ein. Wie schon in der Vergangenheit, so tritt Scheer auch in seinem letzten Buch engagiert für eine Versorgung mit Erneuerbaren in dezentralen Strukturen ein. Er entlarvt die hinter dem Begriff des Energiekonsenses liegende Taktik, die die „überkommene Energiewirtschaft“ mit der Verlangsamung der Energiewende verfolgt. Sie hat letztlich kein Interesse an einer Umstellung auf eine dezentrale, aus vielen lokalen und regionalen Akteuren bestehende, Versorgungsstruktur und versucht, ihre Macht und ihren Einfluss, der aus den von ihnen beherrschten zentralen Strukturen herrührt, möglichst lange aufrecht zu erhalten.

Scheer äußert sich in seinem Buch umfassend zu den aktuellen energiepolitischen Themen: zur Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke ebenso wie zur weiteren Nutzung der Kohle unter der Annahme einer Kohlendioxid-Abscheidung und Lagerung (CCS).

Der Nutzung der Atomenergie stellt er jegliche ethische Begründung in Abrede, wenn er mit Christine und Ernst-Ulrich von Weizsäcker anführt, dass dieser „die für jedwede Technologie unerlässliche Fehlerfreundlichkeit“ fehle und dass die Hinterlassenschaften nachfolgende Generationen noch unabsehbar belasten werden. CCS als Möglichkeit der Verlängerung des Kohlezeitalters lehnt Scheer mit der Begründung ab, dass es geowissenschaftlich keine glaubwürdigen Studien gebe, die eine sichere Lagerung des Kohlendioxids über Zigtausende von Jahren als durchführbar erachte. Die Nutzung von CCS würde – so Scheer – neben den unkalkulierbaren Kosten auch den Durchbruch der Erneuerbaren bis in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts verschieben. Er stellt sich mit seiner Auffassung auch gegen einige Klimaforscher des Potsdam-Instituts (das die Bundesregierung in Klimafragen berät), die CCS befürwortet haben.

Es ist Scheers Überzeugung, dass den Erneuerbaren ein höherer ethischer Wert als allen fossilen und nuklearen Techniken zukommt, da sie „schadstofffrei“ sind und damit keine sozialen Kosten hervorrufen. Diese nicht transparenten Umwelt- (und damit sozialen) Kosten, die bei den – so bezeichnet sie Scheer - „überkommenen Energien“ nicht auf der Stromrechnung angegeben werden, sind auch der Ausgangspunkt von Preisvergleichen, die die Energiewirtschaft zwischen Erneuerbaren und konventionellen Energien anstellt. Scheer spricht in diesem Zusammenhang von Markt-Autismus, wenn er die Forderung der konventionellen Energiewirtschaft nach einer Durchsetzung der Erneuerbaren Energien am Markt bewertet und zu dem Ergebnis kommt, dass Unvergleichliches miteinander in Vergleich gesetzt wird.

Der Emissionshandel ist in Scheers Bewertung kein geeignetes Instrument, da er sich nur auf die Kostenvermeidung konzentriert, dabei aber im Streit der Staaten nur minimale Ergebnisse vorweisen kann.

Nach obigem Positionsbezug wundert es nicht, dass Scheer die aktuell diskutierten Großprojekte Desertec (Wüstenstrom-Projekt zur partiellen Versorgung der EU mit Strom) und Seatec (Projekt eines Supergrids in der Nordsee unter Einschluss der norwegischen Speicherkapazitäten) ablehnt, stellen sie doch in seinen Augen eine Fortsetzung der zentral strukturierten Großprojekte unter Führung der Stromwirtschaft dar.

Er plädiert stattdessen sehr engagiert für eine Beschleunigung des dezentralen Ausbaus der Erneuerbaren Energien, für – wie er sie nennt – „Systembrecher“ der bestehenden, herrschenden Strukturen. Die Fortsetzung und Fortentwicklung des sehr erfolgreichen EEG, die Einführung einer Schadstoffbesteuerung anstelle einer Energiesteuer und politische Rahmenbedingungen, die einen dezentralen Ausbau von Erneuerbaren-Energien-Anlagen, insbesondere auch Windkraft im Binnenland voranbringen, sind seine dafür vorgesehenen, auf Deutschland bezogenen Instrumente.

Er plädiert engagiert für eine bürgernahe, kommunale Energieversorgung und die Überführung der Strom- und Gasnetze in öffentliches Eigentum.

In seiner Vision „Agenda 21 reloaded“ beschreibt er die Chance auf eine Welt, die – nachdem einige Vorreiter-Staaten den Weg vorgezeichnet haben – komplett aus Erneuerbaren Energien dezentral versorgt wird: Eine friedlichere Welt durch die Vermeidung von Konflikten um (Energie-)Ressourcen und Wasser, ein Zugang zu sauberer Energie für alle Menschen.

Die Durchsetzung von „Gesellschaftsethik statt Energieökonomismus“ ist - so Scheer - der Leitfaden in unsere Zukunft. Die alten Energien, allen voran Kohle und Atom, haben abgewirtschaftet und gehören abgewickelt. Die Zukunft ist das Solarzeitalter.

Das Buch schärft wie kaum ein anderes den Blick auf die aktuellen Konflikte um die Wege zu einer Erneuerbaren Energieversorgung, es zeigt mutige Visionen auf und fordert den Leser heraus, politisch Position zu beziehen. Es lädt auch dazu ein, selbst aktiver „Systembrecher“ des bestehenden Energiesystems zu werden.

*) Wilhelm Ostwald (1853 - 1932) war ein deutsch-baltischer Chemiker, Nobelpreisträger (1909) und Philosoph. Veröffentlichung: „Der energetische Imperativ“, Leipzig 1912, S. 81 ff.