100 Prozent Erneuerbare Energien bis 2030? Ist das überhaupt realistisch?
Wenn wir uns mit unserem Wahlspruch an die Infotische begeben, werden wir uns der Frage stellen müssen, warum wir ausgerechnet 2030 ausgewählt haben und ob dieses Ziel überhaupt umsetzbar ist. Eine paar Antworten haben wir Euch hier zusammengestellt.
Warum ausgerechnet 2030?
Die Jahreszahl 2030 ist ein Kompromiss: die anthropogene (menschengemachte) Klimaerwärmung hat bereits heute ein Ausmaß erreicht, das sofortiges Handeln erfordert, da der Fortbestand menschlicher Zivilisation gefährdet ist [1]. Es vergeht kein Jahr mehr ohne Hitzerekorde und Extremwetterereignisse – selbst im globalen Norden, der vierlerorts bislang verschont geblieben ist. Auch die Langzeitfolgen machen sich zunehmend bemerkbar: Millionen Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage, die Anzahl hungernder Menschen nimmt seit 2015 vor allem im globalen Süden wieder zu, und der Klimawandel wird zur Fluchtursache [2].
Das bedeutet: eigentlich müssten wir jetzt sofort auf Null-Emissionen umstellen. Wir müssten alle fossilen Kraftwerke sofort abschalten und die Emissionen von Treibhausgasen in der Industrie, im Wärmebereich, im Verkehr und der Landwirtschaft auf Null (!) zurückfahren. Das jedoch würde zum wirtschaftlichen Zusammenbruch führen, und ist deswegen als schnelle Lösung ausgeschlossen. Beginnen wir dennoch jetzt mit einem gesamtgesellschaftlichen Umbau, können wir unser Ziel von 100% Erneuerbare Energien – und mit etwas Glück auch das 1,5°C Ziel – erreichen, und die Wirtschaft würde davon letztendlich sogar profitieren.
Die Jahreszahlen, die aktuell in der Politik diskutiert werden, liegen viel zu spät.
Unsere Parteien möchten "Klimaneutralität" wesentlich später erreichen. Die Zahlen varriieren zwischen 2040 (Linke, Grüne), 2045 (CDU/CSU, SPD) und 2050 (FDP). Ob damit das 1,5°C-Ziel erreicht werden kann, hängt natürlich von dem entsprechenden Reduktionspfad ab: wird in den ersten Jahren der CO2-Ausstoß massiv gesenkt und Erneuerbare ausgebaut, ist eine späte Netto-Null weniger gravierend als jene, bei der die Treibhausgas-Reduktionen erst "auf den letzten Drücker" erfolgen und in den Jahren zuvor weiter in großen Mengen emittiert wurde. Schnellere CO2-Minderungen führen also zu einer höheren Wahrscheinlichkeit, das 1,5°C-Ziel zu erreichen. Die Erfahrung lehrt uns aber leider, dass die Parteien eher die erst am Ende steil abfallende Kurve wählen werden. [3]
Klimeneutralität vs. 100% Erneuerbare
Dazu muss beachtet werden, dass hinter der Forderung nach "Klimaneutralität", welche die meisten Parteien anvisieren, oder der Forderung nach "100% Erneuerbare Energien" unterschiedliche Konzepte stehen können.
Klimaneutral bedeutet meistens, dass klimaschädliche Produkte oder Dienstleistungen auch kompensiert werden können. Statt einen teuren und komplizierten Transformationsprozess vorzunehmen, um z.B. das eigene Unternehmen mit nachhaltigen Rohstoffen und Energie zu betreiben, können Treibhausgase, die in Deutschland emittiert werden, dann beispielsweise in Südamerika über Spenden in CO2-reduzierende Projekte ausgeglichen werden. Die Abhängigkeit von fossilen Ressourcen oder klimaschädlichen Produktionsweisen bleibt dann aber unverändert, ein klimaschädliches Leben wird günstig erkauft. Der Kurs, den die Parteien anstreben, ist also nicht nur zu langsam, sondern birgt dabei noch diverse Schlupfwinkel für klimaschädliches Verhalten.
Unter 100% Erneuerbare Energien wird hingegen oft nur der Stromsektor verstanden. Eine umfassende Transformation aller energieverbrauchenden Sektoren wird nicht zwangsläufig einbezogen. Es lohnt sich also auch hier, aufs "Kleingedruckte" zu achten.
Was ist die Konsequenz, wenn wir weitere 5, 10 oder 15 Jahre bis zur "Klimaneutralität" benötigen?
Die meisten politischen Emissionsziele basieren auf Berechnungen von Treibhausgas-Budgets. Hier wird angenommen, dass auf globaler Ebene noch gewisse Mengen an Treibhausgasen emittiert werden können, bis eine Erderwärmung von durchschnittlich 1,5°C oder 1,8°C erreicht ist. Teilt man dieses Budget auf alle Länder (pro Kopf) auf, bleibt jedem Land noch eine gewisse Menge Treibhausgase übrig, die es emittieren darf. Je länger ein Land mit einer Reduktion der Emissionen wartet, desto höher wird die Reduktionslast in der Folgezeit und desto steiler wird der nötige Pfad, um die Emissionsziele noch zu erreichen - mit abnehmender Wahrscheinlichkeit.
Auf der Website www.showyourbudgets.com können die möglichen "Pfade" Richtung Klimaneutralität aller Länder für verschiedene CO2-Budgets aufgerufen werden. Wie auf Abbildung 1 zu sehen, müsste Deutschland bereits 2025 die Netto-Null erreichen, wenn wir das 1,5°C Ziel mit einer 66-prozentigen Wahrscheinlichkeit erreichen möchten. Vergleichen wir diesen Pfad mit dem aktuellen Emissions-Pfad, wird das Ausmaß dieses Unterfangens deutlich. Wenn wir das 1,5°C Ziel nur noch mit 50% Wahrscheinlichkeit erreichen möchten, ist der Pfad nicht so steil - wir müssten dann 2030 bei Null landen. Auch dieser Pfad würde eine radikale Beschleunigung des Umbaus erfordern. Mit weniger wird es nicht mehr gehen.[5]
Einschränkend muss gesagt werden, dass es für die verschiedenen Wahrscheinlichkeitspfade und Treibhausgas-Budgets diverse Berechnungsmethoden gibt, aus denen entsprechend unterschiedliche Ergebnisse resultieren. Der SFV stellt die Existenz eines CO2-Budgets grundsätzlich infrage. Zum einen, weil die Konsequenzen von positiven Rückkopplungen und Kipppunkten in den meisten Berechnungen zu wenig berücksichtigt werden. Zum anderen, weil u.a. der IPCC davon ausgeht, dass 100-1000 Gigatonnen CO2 der Atmosphäre entzogen werden. Es gibt also eigentlich gar kein Budget mehr.
Eins ist jedoch klar: akzeptieren wir den Kurs der Parteien, dann verfehlen wir das 1,5°-Ziel mit Sicherheit. Dazu wird die Abhängigkeit größer, über CO2-Rückholung der Atmosphäre die Treibhausgase zu entziehen. Beides hat seinen Preis.
Kipppunkte verhindern!
Ein weiterer Grund, die Treibhausgas-Emissionen so schnell wie möglich runter zu fahren, sind sogenannte "positive Rückkopplungen" und "Kipppunkte". Sie sind das Gefährlichste und oft Unterschätzte am Klimawandel: Folgen der Erwärmung, die automatisch eine weitere Erwärmung hervorrufen. Eines dieser Kippelemente ist der Albedo-Effekt: Eisflächen reflektieren das Sonnenlicht ins All zurück. Wenn sie wegschmelzen, kann immer mehr Sonnenlicht die Erde und das Nordmeer weiter aufheizen.
Das Problem: Es handelt sich um nichtlineare Dynamiken, die sich schnell der menschlichen Kontrolle entziehen können. Selbst, wenn wir die Emissionen dann abrupt auf Null reduzierten, ginge die Erderwärmung weiter. Die positiven Rückkopplungen können sich also gegenseitig zu einer Kaskade verstärken.[6]
100% Erneuerbare in Deutschland - ist das überhaupt realisierbar?
Technisch ist es möglich, innerhalb von 9 Jahren den Ausstoß von Treibhausgasen in Deutschland fast vollständig zu beenden. Die Lösung: Windenergie, Photovoltaik und Speichertechniken. Zusätzlich muss das Klima durch die Rückholung von Treibhausgasen wieder stabilisiert werden. Das Ziel muss sein, vom derzeitigen CO2-Gehalt von 420 ppm mindestens auf 350 ppm zurückkommen, bis spätestens 2030.
Das erfordert tatsächlich gewaltige gesamtgesellschaftliche Anstrengungen. Alle Bereiche unseres Lebens müssen in kürzester Zeit dekarbonisiert werden. Bei Investitionsentscheidungen müssen in allen Branchen Klimaschutzbelange vorrangig behandelt werden. Es darf keine regulatorischen Ausbaulimits für Erneuerbare Energien geben. Flächenbeschränkungen und ungerechtfertigte Restriktionen bei Genehmigungsverfahren für Wind- und Solaranlagen müssen enden. Wirtschaftlich tragfähige Rahmenbedingungen sollen Investitionen und den Ausbau der Produktionsstätten für PV- und Windenergie ankurbeln. Außerdem muss CO2-Ausstoß einen Preis erhalten, der den Folgeschäden entspricht.[9]
Wir hätten schon längst viel mehr erreichen können, denn die Technik und die Ideen sind bereits vorhanden. Je länger wir jetzt noch warten, desto mehr sind wir auf aufwändige CO2-Rückholung angewiesen; desto mehr Last werden kommende Generationen und Gesellschaften des globalen Südens tragen müssen; desto unwahrscheinlicher wird es, Kipppunkte zu verhindern. Und es wird immer teurer. Die Energiewende in dem von uns geforderten Tempo ist technisch machbar, ökologisch notwendig und ökonomisch die bessere Alternative.
Dimensionen der Energiewende
Unser Strombedarf wird sich etwa verdreifachen, wenn wir den Verkehr und die Wärmeversorgung auf Elektrizität umstellen und dadurch klimafreundlich machen. Dafür sparen wir in allen Sektoren in großem Umfang fossile Kraftstoffe ein. Nach Schätzungen des SFV brauchen wir ca. 1800 TWh Strom pro Jahr für Wärme, Verkehr, Elektrizität und CO2-Rückholung. Kostenoptimal wäre nach unseren Berechnungen ein Mix aus z.B. 570 GW Photovoltaik und 500 GW Windenergie (onshore und offshore). Es ist aber auch möglich, verstärkt auf Solar zu setzen, damit verließe man lediglich den kostenoptimierten Pfad. Außerdem braucht es Speicher, die etwa 240 TWh über längere Zeit speichern können.
Die Flächenpotenziale, um das mit Photovoltaik und Windenergie zu schaffen, reichen aus. Dies bedeutet aber eine Verzehnfachung des bisher jährlichen Zubaus. Mit unserem beispielhaften Ausbaupfad benötigen wir bis 2030 also einen Zubau von z.B. 50 GW jährlich an Windenergie (2020: weniger als 2 GW zugebaut), und mehr als 60 GW an Photovoltaik (2019: weniger als 4 GW zugebaut).
Speicher sind der „missing link“, um uns in Zeiten mit mangelnder erneuerbarer Energieerzeugung (Nacht, Flaute) zuverlässig zu versorgen. Hier brauchen wir neben weiterer Forschung auch endlich Förderprogramme, die Speichersysteme marktfähig machen, ähnlich wie damals die Solaranlagen mit dem ersten Erneuerbare-Energien-Gesetz 2000.
Potenziale von Wind und PV
Nach konservativen Schätzungen verfügt Deutschland über deutlich mehr als 1000 GW Potenzial für die Nutzung von Photovoltaik. Das umfasst Gebäudedächer und -wände, Lärmschutzwände, Autobahnrandflächen, militärische Konversionsflächen usw. Viele bereits versiegelte Flächen ließen sich mit PV-Modulen belegen, z.B. als Parkplatz-Überdachungen, die zugleich Schatten spenden. Beträchtliche Flächen könnten zudem über Agri-PV-Anlagen erschlossen werden. Dabei findet unter oder zwischen den Modulreihen landwirtschaftlicher Pflanzenanbau statt.
Für Windkraft können viel mehr Flächen genutzt werden, auch in Wirtschaftswäldern. Entlang der Autobahnen und Eisenbahnlinien sowie z.B. an den Rändern von Tagebau-Restflächen können ebenfalls Windräder errichtet werden. Bleiben wir bei dem preisoptimierten Ausbaupfad, müssen weit mehr als 2% der Landesfläche für die Errichtung von Windkraftanlagen verwendet werden. Alternativ kann mit 250 GW zusätzlich errichteter PV-Anlagen auf ca. 100 GW Windkraft verzichten werden. Der Vorteil: Für dezentrale und urbane PV-Anlagen müssen keine Freiflächen belegt werden.
Die bis heute installierte Leistung an Photovoltaik (54 GW) und Windenergie (63 GW) muss also in den neun Jahren bis 2030 in etwa verzehnfacht werden. Da die Produktions- und Installationskapazitäten erst wieder aufgebaut werden müssen, brauchen wir hier ein exponentielles Wachstum. Dies ergäbe ein gewaltiges Investitionsprogramm mit bedeutenden Arbeitsplatz-Effekten. Weiterer angenehmer Nebeneffekt: Die Erde bleibt vielleicht für Menschen bewohnbar.
Die Kosten
Die Investitionskosten für einen solchen ambitionierten Umbau werden immens hoch sein. Doch verglichen mit den Kosten, die wir dadurch vermeiden können, ist es richtig preiswert. Wenn wir die Subventionen für fossile Brennstoffe abschaffen, haben wir schon 46 Milliarden Euro pro Jahr in der Hand, um Anreize für die möglichen Investitionen zu schaffen. Und noch viel höher sind die vermiedenen Folgekosten der Klimaerwärmung, die sonst auf uns zukommen. Ein aktuelles Beispiel aus Westdeutschland: die Kosten der Hochwasserschäden werden auf bis zu 10 Milliarden Euro geschätzt.[7]
Fazit
Das Programm „100 % Erneuerbare Energien bis 2030“ scheitert nicht an den technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten von Deutschland. Wenn es unterbleibt, dann ist es eher am fehlenden politischen Willen gescheitert. Wir werden dann in wenigen Jahrzehnten den nachfolgenden Generationen erklären müssen, warum wir von der Katastrophe wussten, sie verhindern konnten, es aber nicht getan haben.
Quellen:
[1]
[2]
- Rüdiger Haude: Klimaflucht und Klimakriege
- Tetsuji Ida: Climate refugees – the world’s forgotten victims
- Welthungerhilfe: Klimaflüchtlinge - Was hat Klimawandel mit Flucht zu tun?
- Philipp Hummel: Klimakriege zwischen den Völkern
- Harald Welzer: Wer vom Klimawandel spricht, darf vom Kapitalismus nicht schweigen
[3]
[5]
[6]
- https://www.polarstern-energie.de/magazin/artikel/klimawandel-kipppunkte/#c9299
- http://www.pik-potsdam.de/~stefan/Publications/Kipppunkte%20im%20Klimasystem%20-%20Update%202019.pdf
- https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/publikation/long/3283.pdf
- https://hans-josef-fell.de/es-gibt-kein-co2-restbudget-mehr/
[7]